Projekt Icarus

Tierbeobachtung aus dem All

Eine Animation des Projekts ICARUS und seiner Funktionsweise.
Tausende Punkte auf der Landkarte: Tiermigration beobachtet aus der Vogelperspektive. © YouTube / Max-Planck-Gesellschaft
Von Thomas Wagner · 04.09.2018
Eine Antenne an der Raumstation ISS empfängt Bewegungsdaten von Zehntausenden Tieren. So lassen sich Rückschlüsse auf Umweltveränderungen ziehen: Beispielsweise durch Ziegen, die rechtzeitig vor einem Vulkanausbruch fliehen – und so als Frühwarnsystem dienen könnten.
Internationale Raumstation ISS, Mitte August: Russische Kosmonauten begeben sich ins All – und installieren: eine Antenne.
"Wir waren sehr erleichtert, als dann nach mehr als sieben Stunden unsere Antenne angebracht war und ausgeklappt war und die ersten Signale zwischen dem Onboard-Computer und unserer Antenne empfangen werden konnten."
Uschi Müller hat die ganzen sieben Stunden, in denen die Antenne installiert wurde, mit gebibbert. Denn die Antenne auf der Raumstation ist ein Meilenstein in der Entwicklung eines Forschungsprojektes, das die Biologin am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee als ihr Lebenswerk ansieht: Icarus.
Installation der Icarus-Antenne an der ISS. Die Antenne ermöglicht es, die Bewegungen von Tieren auf der Erde zu beobachten.  
Installation der Icarus-Antenne an der ISS.© NASA
Dahinter verbirgt sich ein globales Tierbeobachtungsprojekt, an dem grenzüberschreitend zahlreiche Forschungsinstitute beteiligt sind. Die Idee: Mehrere Zehntausend Tiere unterschiedlichster Größe und Gattung werden weltweit mit kleinen Peilsendern ausgestattet. Die senden Signale in Richtung ISS.

Das Leben auf dem Planeten besser verstehen

"Dann wertet man die Bewegungsdaten aus. Das Zugverhalten, die Bewegungsdaten, Bewegung in drei Achsen – diese Sender können unter anderem Luftdruck messen, Feuchtigkeit und Temperatur und Magnetometer. Wir verhalten uns von diesen Daten ganz neue Erkenntnisse für die Verhaltensbiologie: über das Verhalten, Sterben, Leben auf unserem Planeten."
Und nicht nur darüber: Schließlich seien Verhaltensänderungen von Tieren, die sich über die Mini-Sender genau dokumentieren lassen, auch ein Indikator "unter anderem für Umwelt-Veränderungen. Daneben erhoffen wir uns Erkenntnisse über die Verbreitung von Krankheiten. Wir möchten mit dieser neuen Technik die bedrohten Arten auf dieser Erde schützen und in Zukunft eventuell auch die Tiere als Frühindikatoren hernehmen, um Naturkatastrophen vorherzusagen."

Ziegen oder Elefanten warnen vor Naturkatastrophen

Ein Beispiel dafür: Ziegen, die derzeit friedlich am Ätna grasen. Wohlgemerkt: derzeit. Denn jeweils Stunden vor Ausbrüchen des 2300 Meter hohen Vulkans im Süden Italiens verfallen die Ziegen in auffällige Hektik, laufen auf und davon, suchen Schutz. Einige von ihnen ließ Professor Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie Radolfzell und Leiter des Icarus-Projektes, mit winzig kleinen Sensoren und Sendern ausstatten.
"Wir haben ein Patent schon eingereicht, dass wir über diese tierischen Sensoren schon zum Beispiel Vulkanausbrüche am Ätna feststellen können. Die Tiere sagen es uns. Da sind auch ein GPS locker drauf und auch ein Beschleunigungsmesser. Das wissen wir das ganze Jahr durch: Die Ziege frisst gerade, die sitzt, die läuft – oder die läuft ganz schnell weg vor irgendetwas. Und wenn dann eben alle Ziegen gleichzeitig etwas machen oder viele Ziegen gleichzeitig, dann kann man sehen: Da passiert jetzt irgendetwas Außergewöhnliches."
Zum Beispiel eben ein Erdbeben: Tiere als Vorboten von Naturkatastrophen – Icarus-Koordinatorin Uschi Müller nennt ein zweites Beispiel:
"Die Geschichte von dem großen Tsunami. Damals hatten die Menschen ja berichtet, die Elefanten hätten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht, ins Hinterland, in die Berge und haben überlebt."
Im Rahmen eines Pilotprojektes statteten die Forscher deshalb auch Elefanten mit Sendern aus.
"Das war jetzt erst mal eine Pilotstudie. Aber da bislang glücklicherweise kein weiterer Tsunami ausgebrochen ist, konnten wir das bislang noch nicht belegen. Zukünftig haben wir vor, diese Tiere mit der neuen Technologie auszustatten, um zu sehen, ob die Tiere diese Tiere Erdbeben vorhersehen können."
Neue Technologie: Damit meint Uschi Müller die Icarus-Sender der zweiten Generation, die ihre Signale auch tatsächlich bis zur neu installierten Icarus-Antenne an die Internationale Raumstation senden können.

Tiere als Boten für Umweltveränderungen

Die bisherigen Icarus-Sender funktionierten dagegen wie kleine Mini-Handys. Sie buchten sich in das Mobilfunknetz des jeweiligen Landes ein und übermittelten auf diesem Weg die Bewegungsdaten der Tiere. 20.000 Tiere weltweit wurden bislang mit solchen Mobilfunk-Sendern ausgestattet. Die haben allerdings, so Uschi Müller, einen Nachteil: "In vielen Gebieten ist ein Empfang über das Telefonnetz überhaupt gar nicht möglich."
Über Direktverbindungen zur Internationalen Raumstation mit Hilfe der neuen Antenne aber sehr wohl.
"Darum war die Idee, diese neue Technik auf einen Satelliten zu bringen und diese Daten global auswerten und global empfangen zu können. Das bedeutet, dass wir jetzt Tiere beobachten können, bei denen das gar nicht möglich war. Zum Beispiel die größeren Singvögel wie jetzt Amseln, Stare können jetzt mit dieser Technologie schon ausgestattet werden. Größere Fledermäuse, wie zum Beispiel die Flughunde, die ein Gewicht haben ab 90 Gramm und mehr."
Eine Amsel mit einem Vorläufer des Icarus-Senders
Eine Amsel mit einem der "alten" Icarus-Sender© MPIO, MaxCine
Tiere als lebende Boten für Umweltveränderungen, als Vorboten für Naturkatastrophen gar – all dies übt auch auf Nichtwissenschaftler, wie hier auf die Besucher einer Icarus-Ausstellung auf der Bodensee-Insel Mainau, eine große Faszination aus.
"Wir haben jetzt grade diese Datenübertragung angesehen, wo man Daten abrufen kann von den Tieren. Das ist halt spannend. Also die Tiere hier mit diesem Icarus-Sender steht da, oder, Luka?
"Genau, und das wird alles über die Raumstation ISS verfolgt und ist ein sehr tolles Projekt."

Dem Geheimnis der Schwarm-Intelligenz auf der Spur

Mit ihren mehreren Zehntausend Peilsendern, mit denen das Icarus-Forscherteam Elefanten, Ziegen, Singvögel, Hasen und viele andere Tierarten mehr ausgestattet hat, wollen sie darüber aber ein weiteres Geheimnis ergründen – nämlich, so Projektleiter Martin Wikelski, das der so genannten Schwarm-Intelligenz.
"Das heißt: Das nicht eine einzige Ziege weiß, was los ist. Sondern die sind ja im Verbund von allen möglichen Tieren, die kleinen Vögel, die Eidechsen, die Mäuse, wer auch immer. Und die kriegen alle irgendetwas anderes mit, sind aber miteinander über Geruch, über Töne, über das visuelle Feld, über die Beobachtung verbunden."
Aber wie genau? Klar ist: Diese Kommunikation der Tiere untereinander führt häufig zu einem geschlossenen Gruppenverhalten, also beispielsweise das Wegrennen der Ziegen vor dem Vulkanausbruch. Und die Analyse dieses Gruppenverhaltens über die Peilsender und die neue Icarus-Antenne können auch die Menschen für sich sinnvoll nutzen, meint Icarus-Koordinatorin Uschi Müller:
"Aber wir gehen davon aus, dass, wenn genügend Tiere auf dieser Welt besendert werden können und beobachtet werden können, ihr Zugverhalten, ihr Verhalten, ihre Lebensumstände verstanden werden können, können wir über den Verschnitt mit anderen Umweltdaten das Zusammenspiel der Lebewesen auf dieser Welt besser verstehen. Und wenn wir das besser verstehen können, dann haben wir auch Möglichkeiten, die Lebensumstände besser schützen zu können. Und auch die der Menschen."
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