Projekt Demokratie-Sprechstunde in Bochum

In welcher Verfassung ist Deutschland?

Richard Fuchs mit seiner Demokratie-Sprechstunde in Bochum
Der Journalist Richard Fuchs wollte wissen, wie es um die Demokratie bestellt ist. © Richard Fuchs
Von Richard A. Fuchs · 11.12.2017
Fünf Tage hat der Journalist Richard Fuchs auf einem Bochumer Platz zu einer Demokratie-Sprechstunde eingeladen. Tisch, Schild, Mikrofon, die Bereitschaft zuzuhören - und schon war er im Gespräch mit jenen, von denen die Macht in der Demokratie ausgeht: mit dem Volk.
"Ich denke, dass das, was uns als Demokratie verkauft wird, nicht wirklich Demokratie ist, momentan."
"Demokratie ist ja erst mal, wenn nicht einer was alleine zu sagen hat. Nun hat ja mal in Deutschland nicht einer alleine was zu sagen. Noch können wir ja ein bisschen boxen, ne."
"Ich glaube, dass viele die Demokratie einfach für selbstverständlich halten. Für ein Naturgesetz, dass einfach da ist. Und das ist leider nicht so. Sondern wir müssen uns darüber bewusst sein, dass die Demokratie nicht selbstverständlich ist."

Fünf Tage Demokratie-Sprechstunde in Bochum

Okay, ich gebe zu: Der eigentliche Grund, warum ich jetzt hier auf dem Hans-Schalla-Platz in Bochum sitze, ist eine gewisse Sorge. Lange dachte ich, Demokratie ist ein Geschenk, das mich mein Leben lang begleiten wird. Das gemeinsame Europa, über sieben Jahrzehnte Frieden, das Grundgesetz - die für mich zweifelsfrei beste Verfassung der Welt. All das gab mir ein gutes Gefühl, dass hier, bei uns, in Deutschland, die Demokratie fest in den Köpfen verankert ist. Doch so sicher bin ich mir nicht mehr.
Im Gegenteil: Ich bin angespannt. Eine lange Zeit des Nachdenkens liegt hinter mir - über Trump, Brexit und warum auch in Deutschland die Zustimmung für Populisten zwischenzeitlich so zunehmen konnte. Freunde und Familie drängten mich: Probier‘ es doch mal mit Zuhören! Und genau deshalb baue ich – mitten im Ruhrgebiet - den Stand meiner Demokratie-Sprechstunde auf.
Ich habe Begriffe wie Krisen, Hass und Hetze im Kopf, als ich den großen Schirmständer auf den Theatervorplatz rolle – und im Anschluss den orangefarbenen Gartenschirm darin positioniere: gegen die Sommerhitze. Ich denke an Menschen, die mich bei anderen Gelegenheiten als Vertreter der Lügenpresse beschimpft haben, während ich unter dem Schirm meinen Holztisch aufklappe und zurechtrücke. Und ich denke an den aggressiven Ton in Debatten und die Terrorangst, als ich den roten und den blauen Plastikstuhl an den Tisch stelle.
Davor kommen noch zwei mannsgroße Schilder mit dem Titel "Demokratie-Sprechstunde". Fertig ist der Aufbau! Bald sollen hier Bürgerinnen und Bürger der Stadt Platz nehmen, um mir ihre Meinung zu sagen. Doch werden sie auch kommen? Hinter mir, das Schauspielhaus der Stadt, vor mir, eine relativ vielbefahrene Straßenkreuzung, und in meiner Hand, die Sondernutzungserlaubnis der Stadt Bochum. 44,50 Euro, damit ich die Bochumer eine Woche lang befragen kann: Wie geht es der Demokratie in Deutschland?

Tag 1 - Der Redebedarf ist groß

Es ist später Montagmorgen. Und schon jetzt kratzt das Thermometer die 30-Grad-Marke. Auf dem Tisch liegt eine Ausgabe des Grundgesetzes. Ich blättere es durch. Schweißperlen rollen über meine Stirn. Und zu meinem Erstaunen sitzen mir bald Menschen gegenüber. Mein Experiment bekommt sogar erste Komplimente. Von Manfred Poos, einem 55-jährigen Bochumer.

"Das ist sehr, sehr ur- und basisdemokratisch, der Gedanke, eine Sprechstunde darüber zu haben, miteinander face-to-face ein Gespräch darüber zu führen. Eine Demokratie lebt glaube ich auch davon, dass sie von unten stattfindet, und das ist halt ein Merkmal, was immer mehr verschwindet."
Wenige Minuten später sitzt mir eine ältere Frau gegenüber, eine Rentnerin, die gerne anonym bleiben möchte.

"Wie geht es unserer Demokratie aktuell?"
"Ich finde, dass es ihr nicht sehr gut geht. Also ich sehe das zum Beispiel daran, dass ich bereit bin, ihnen meine Meinung zu dem Thema zu äußern, weil ich wohl das Gefühl habe, ich werde nicht oft genug gefragt - oder Meinungen zählen wenig."
Bereits am ersten Tag, an dem ich knapp 20 Gespräche führen werde, drängt sich mir der Eindruck auf: Der Redebedarf ist groß, sehr groß. Ganz gleich, ob mir kritische Geister, vermeintlich normale Bürger, Zufriedene, Verängstigte, Wütende, Enttäuschte oder bisweilen – aus meiner Perspektive – eher verwirrte Mitbürger gegenübersitzen.
Besonders erstaunlich: An meinem Tisch nehmen einige Menschen Platz, die statt mit dem Grundgesetz, lieber mit der Reichsverfassung von 1871 leben würden. Die statt in der Bundesrepublik Deutschland lieber im Deutschen Reich aufwachen wollen. Mit weniger Ausländern, einem Monarchen, gänzlich anderen Regeln. Kurz und knapp: Reichsbürger.
Ein Mann, Anfang 50 würde ich schätzen, tritt an meinen Tisch heran. Bedächtig, aber sehr gezielt. Der Mann hat einen festen Händedruck, eine natürliche Glatze und trägt Jeanskleidung trotz Hitze. Er will anonym bleiben, stellt sich als bekennender Buddhist vor. Konschok-Pende, der Drei-Juwelen-Halter, so soll sein spiritueller Name sein. Streng buddhistisch, streng rechtsnational.
"Rein völkerrechtlich ist das Königreich Preußen sehr wohl noch existent ..."
Vom heutigen Grundgesetz, von seinen Institutionen und seinen Repräsentanten, hält er nicht viel. Fast 90 Minuten wird er mir das erklären. In verschachtelten Sätzen. Mit schier endlosen Paragrafen-Schleifen. Und mit bemerkenswertem, missionarischem Eifer.
"Wie wichtig ist ihnen das Grundgesetz?"
"Das Grundgesetz ist keine Verfassung …"
"Gehen sie im September wählen?"
"Seien sie mir bitte nicht böse mit dem Zynismus: Wenn Wahlen dazu dienen würden, etwas zu verändern, dann wären sie bereits verboten!"
"Also ich habe das früher mal anders gelernt."
"Wenn sie das anders gelernt haben, dann muss man sehr genau wissen, dass alles regiert wird von Geldkreisläufen."
Kreisläufe, die von DEN Medien totgeschwiegen würden. Elitentreu und gleichgeschaltet, seien sie, die Medien. Ich höre mir die Medien-Schelte an, getreu meines Zuhör-Versprechens, und frage weiter.
"Wie kommen Sie in dieser Welt klar?"
"Mit Meditation, und mit der Lage, dass man über Meditation in der Lage ist, das, was man wahrnimmt, zu weiten Teilen auch ausblenden zu können. Anders ist das hier, insbesondere im Ruhrgebiet, sehr, sehr problematisch."
Ich bin erschöpft – vom Zuhören! Und einige Stimmen dieses Tages hallen in meinem Kopf nach, während ich zusammenräume.

Nina Weiss: "So wie der Bundestag arbeitet und entscheidet, denke ich, dass das nicht wirklich demokratisch ist. Es ist nicht die Stimme des Volkes, die vertreten wird, sondern es sind Lobbyisten, die sehr viel ihre Interessen vertreten. Und die Abgeordneten nicken zum Teil ab."

Patrick Mate: "Ich gehe davon aus, dass die breite Masse das gleiche Gefühl hat wie ich: Es ist egal, was ich wähle. Wähle ich die SPD, bekomme ich die Agenda 2010. Wähle ich die CDU, wird die Agenda 2010 verteidigt. Wähle ich die Grünen, hoffe ich auf was Besseres. Aber die werden machen, was ihr großer Koalitionspartner macht. Und von der FDP brauchen wir nicht anzufangen. Von daher gehe ich davon aus, dass viele Leute einfach sagen, es ist egal was ich wähle. Am Ende wird sowieso immer das Gleiche gemacht."

Ältere Frau: "Es wird völlig unterschiedlich gesehen: Einige nehmen die Demokratie wahr und andere nehmen sie nicht so wahr und glauben wohl auch nicht richtig dran."

Tag 2 - Wie viel Ungleichheit verträgt die Demokratie?

Bevor es losgeht, atme ich noch einmal tief durch. Ich bin unsicherer als zuvor, wie es nun wirklich um sie steht: unsere Demokratie. Und während ich noch grüble, taucht ein älterer Mann in verschlissenen Kleidern vor meinem Stand auf. Er stellt sich vor, als Rentner, der wegen hoher Medikamentenkosten obdachlos wurde.

Obdachloser: "Ich finde keinerlei Unterstützung, weil ich unangenehm bin. Weder juristisch, noch ärztlich, weil ich bin unangenehm. Aber, in einer Demokratie darf ein Mensch auch unangenehm sein. Wenn er unangenehme Wahrheiten aufdeckt."
Der Mann fragt nach ein paar Euro praktischer Unterstützung. Er bekommt sie. Und ich denke über soziale Ungleichheit nach, und danach, wie viel davon eine funktionierende Demokratie verträgt. In dem Moment geht an der Bushaltestelle neben mir die Tür vom Linienbus auf. Fahrtrichtung Castrop-Rauxel. Eine ältere Frau humpelt mit einer Krücke an mir vorbei. Ihr Blick fällt auf mein Schild, und ihr Frust entlädt sich – wie ein Gewitter. Über das Gesundheitssystem, über die Politik und über die Flüchtlinge, die an den knappen Arztbudgets schuld seien.
Rentnerin: "Ich bin am Samstag aus dem Krankenhaus gekommen, nach einer Knieoperation. Neues Kniegelenk. Ich brauche Krankengymnastik. Er kann mir keine mehr aufschreiben. Jetzt laufe ich rum, ohne Krankengymnastik. Das ist unsere Demokratie heute. Also, dass sich mein Mann schon umgedreht hat, versteh ich jetzt. Also, ich brauch nicht mehr viel, dann bin ich auch anders."
"Was heißt rumgedreht?"
"Der war SPD und heute steht er zu den anderen."
"Also zu den anderen heißt zur AfD."
"Ja genau."

Die Sehnsucht nach einfachen Antworten

Ich denke über populistische Parteien nach. Ihre einfachen politischen Antworten für eine immer komplexere Welt. Weniger Flüchtlinge, gleich weniger Engpässe im Gesundheitssystem, könnte ein solcher Slogan lauten. Eingängig, prägnant und doch in dieser Form nicht mit Fakten zu belegen. Und ich frage mich: Warum finden derlei Botschaften trotzdem Anklang? Ist das alles nur der Suche nach Sündenböcken geschuldet?
Ich bekomme Besuch von einer Theatermacherin. Eva Bormann ist Dramaturgin am Schauspielhaus Bochum und hat gerade das Stück Biedermann und die Brandstifter auf die Bühne gebracht. Sie schaut unaufgeregt und analytisch auf die einfachen, oft plumpen, nicht selten erlogenen Botschaften populistischer Parteien. Und sie kann, ohne die Dinge gutzuheißen, das Verlangen nach solch klaren Botschaften nachvollziehen.

Eva Bormann: "Das ist fast so, wie wenn man aus einer übervollen Badewanne manchmal den Stöpsel zieht. Das ist so ein Gefühl der Erleichterung, da kommt irgendwie ein Sprachangebot, dem kann ich mich sehr schnell zuordnen, weil ich die Gedanken sehr klar vor Augen sehe, was die da formulieren."
Die Dramaturgin Eva Bormann
Die Dramaturgin Eva Bormann© Richard Fuchs
Der Theatermacherin fällt es relativ leicht, zu steilen Thesen der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland - eindeutig, schnell und klar Gegenargumente zu finden - und diese zu formulieren. Bei den oft schwammigen, abwägenden und relativierenden Aussagen anderer Parteien, fällt es ihr dagegen schwerer, sagt sie. Und während ich über die Höckes, Gaulands und von Storchs dieser Nation nachdenke, lasse ich andere Stimmen des Tages Revue passieren.

Leon Tölle: "Wenn der Einzelne an sich nicht mehr wichtig ist, dann fragt sich der Einzelne, warum soll ich mich mit irgendwas auseinandersetzen ... da geht es auch schon darum, dass es cool ist ... arbeiten dran."
Lea Pakratov, 18 Jahre, Schülerin: "Man sieht halt erst mal irgendwas, also zum Beispiel, ein Parteiprogramm. Und dann denkt man sich, ja, ok! Toll! Und dann guckt man sich was an, dann versteht man die Hälfte nicht. Oder man kennt sich auch nicht mit dem Prinzip von der Partei aus. Und dann kann man diese Zusammenhänge auch gar nicht erschließen. Ich find’s auch manchmal so lustig, weil ich mir denke, in eurem Parteiprogramm steht was komplett anderes als ihr hier gerade erzählt."
Mann mittleren Alters: "Also ich finde den Umgang mit Meinungen, die nicht unbedingt dem Mainstream entsprachen, extrem problematisch."

Tag 3 - Gefühle sind ins Zentrum der Politik gerückt

Ich beginne den Tag mit dem Gefühl: Ich brauche selbst Klarheit. Einordnung, ja, vielleicht sogar professionellen Rat. Deshalb mache ich einen Abstecher nach Düsseldorf, an die dortige Heinrich-Heine-Universität. Ich treffe Politik-Professor Stefan Marschall. Er ist einer der Köpfe hinter dem deutschen Wahl-O-Mat – und er untersucht die Krisen der Demokratie von Berufs wegen. Sein Blick: unaufgeregt.

Stefan Marschall: "Der Demokratie in Deutschland geht es, wenn man die bloßen Zahlen sich anschaut, gar nicht so ganz schlecht. Die Wahlbeteiligung sinkt zwar insgesamt etwas, ist aber in den vergangenen zwei Jahren wieder angestiegen. Die Wahlbeteiligung befindet sich auf einem relativ hohen Niveau. Die Zufriedenheit der Bevölkerung, mit dem System der Demokratie, ist, so sagen uns die Umfragen, noch relativ hoch. Sie ist stabil über die letzten Jahre geblieben. Es lässt sich also nicht in den letzten Monaten, oder zwei Jahren, ein Abschwung der Demokratie-Zufriedenheit feststellen."
Was sich verändert hat, frage ich ihn. Ganz klar, sagt Marschall: die Kommunikation, die politische Debatte. Die habe sich durch soziale Medien radikal gewandelt. Gefühle und Angst seien ins Zentrum der Politik gerückt. Lügen haben mehr Möglichkeiten, sich zu verbreiten. In Echtzeit - und im Übermaß.
Stefan Marschall: "Mittlerweile ist es so, dass ganz schnell viele Nachrichten kursieren können, die man kaum noch überprüfen kann. Und da liegt gerade die Gefahr drin, dass die Nachrichten, auch Falschnachrichten, sehr schnell draußen sind, sie können vielleicht später überprüft werden. Man kann sie vielleicht später auch als unwahr darstellen. Aber, dann ist es schon zu spät. Dann haben sie ihre Wirkung entfaltet. Dann haben Politiker darauf reagiert. Dann haben die Bürger bereits darauf reagiert. Und dann ist es zu spät, die Wirkung einzufangen."
Gefragt sei: Medienkompetenz. Der sichere Umgang mit der tagtäglichen Informationsflut. Und natürlich braucht es dazu den richtigen Sensor, um zu wissen, welche Nachrichten, welche Quellen vertrauenswürdig seien – und welche nicht.

Stefan Marschall: "Das ist sehr schwer, aber ich glaube, dass das auch ein positiver Effekt ist von dem, was wir in den letzten Monaten aus den USA erlebt haben, dass eine Sensibilisierung stattgefunden hat, auch gegenüber dieser Tatsache, dass nicht alles, was verbreitet wird, richtig ist. Und dass nicht jeder Tweet korrekt ist. Und dass nicht jede Facebook Info dann auch entsprechend korrekt sein muss, sondern, dass man erfahren hat und gesehen hat, dass man sehr vorsichtig sein muss. Und das ist eine Erfahrung, die durchaus heilsam sein kann. Und insofern gibt es durchaus Hoffnung."
Um die Mittagszeit bin ich zurück am Stand der Demokratie-Sprechstunde in Bochum. Der Platz ist voll mit Schülern, die auf eine Vorstellung warten. Auf dem Spielplan des Theaters steht das Stück "Homo Empathicus". Werde ich Menschen finden, die empathisch für unsere repräsentative Demokratie die Stimme erheben? Als ich die Hoffnung beinahe aufgegeben habe, werden genau diese Stimmen zahlreicher.

Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland ist relativ hoch

Bernd Untiedt: "Im Großen und Ganzen, glaube ich, funktioniert das bei uns relativ gut. Es gibt allerdings Kräfte, die denke ich, versuchen, die Demokratie von verschiedenen Seiten zu erschüttern. Von innen und von außen."
Mann: "Natürlich bin ich einer von über 80 Millionen, da kann ich nicht allzu viel erwarten. Aber: jeder hat die Möglichkeit, sich hier einzubringen."

Auch Mohamed-Ali Saidi radelt am Theatervorplatz vorbei, hält an und setzt sich für ein paar Minuten zu mir. Der 27-Jährige ist Lehramtsstudent für Geschichte und Geographie. Er ist Deutscher mit arabischen Wurzeln und er engagiert sich als politischer Bildungsreferent in Gelsenkirchen. Sein Plädoyer für die demokratischen Werte in diesem Land: leidenschaftlich.
Mohamed-Ali Saidi: "Mit dem Blick auf heute gelenkt, würde ich für mich feststellen, dass wir eine Demokratie leben und erleben dürfen, die es tatsächlich so auch noch nicht gegeben hat. Wenn es um Partizipation geht, wenn es darum geht, Demokratie zu definieren, oder politische Bildung und Teilhabe in der Gesellschaft ausfindig zu machen, dann ist ein ganz guter Indikator, dafür, dass man trotz alledem, ob man mit den Entwicklungen zufrieden ist oder nicht, immer wieder auch seine Meinung dazu äußern darf. Und ich finde, dass das mit Abstand das höchste Gut in einer Gesellschaft ist, nicht dafür belangt zu werden, für das was man denkt oder sagt, sondern, dass man die Möglichkeit dafür bekommt, mit dem, wofür mein einsteht, mit dem auch in der Gesellschaft etwas darzustellen."
Lehramtsstudent Mohamed-Ali Saidi
Lehramtsstudent Mohamed-Ali Saidi © Richard Fuchs

Tag 4 - Abgrenzung als Mittel gegen Komplexität der Gegenwart

Donnerstagmorgen. Der für mich gefühlt heißeste Tag des Jahres beginnt. Und ich stoße beim konzentrierten Zuhören an meine körperlichen Grenzen. Wie passend, dass sich meine Gespräche an diesem Tag viel mit dem Gefühl der Überforderung beschäftigen. Laura ist überzeugt, was derzeit passiert, dass sei nichts anderes als die große Infragestellung von allen Dingen.

Laura: "... weil scheinbar alle irgendwie unzufrieden sind. Sich entweder bedroht fühlen, oder sich schuldig fühlen, Angst haben, verstehen wollen, was eigentlich wirklich passiert in der Welt, die sehr schwer zu verstehen ist. Und irgendwie auch nicht leichter wird, sondern eher immer komplizierter."
Martina Stangel-Meseke besucht mich am späten Vormittag an meinem Holzklapptisch, bringt zwei Croissants und zwei kleine Orangensaft-Fläschchen als Gastgeschenk. Ich spreche mit der Dortmunder Professorin für Wirtschaftspsychologie über den Vertrauensverlust - zwischen Bürgern und Politik. Und über eine Identitätskrise der Gesellschaft, ausgelöst durch die Überforderung des Einzelnen.
Martina Stangel-Meseke: "Das Phänomen könnte man bezeichnen als das Nicht-verstehen-der-Welt. Also, sie ist so komplex. Es gibt Soziologen, zum Beispiel den Soziologen Beck, der spricht vom Homo Optionis. Ich habe so viele Optionen für mein Leben, die ich ergreifen kann, und teilweise sind mir die Konsequenzen nicht klar, und mir ist auch nicht klar, was es für andere Veränderungen gibt, die dann meine Lebenslage stark verändern. Also ich denke, da ist eine komplette Irritation."
Eine Irritation, durch die gerade Menschen mit geringem Selbstwertgefühl beginnen würden, das wahrgenommene Chaos zu sortieren. Schnell, und nach festen, mentalen Schubladen, erklärt die Professorin. Oder wie es die soziologische Theorie nenne, durch die Einteilung in soziale Kategorien. Eine Eigengruppe werde gebildet, der man sich zugehörig fühle. Und eine Fremdgruppe, gegen die man sich abschotte.
Eliten-, Politiker- und Flüchtlings-Bashing dienten natürlich zur Abgrenzung gegen die Fremdgruppe. Und die Begründungen für die Einteilungen fänden sich: nicht zuletzt, in den kurzen, pointierten Slogans von Populisten.
Christina Decken, die einige Stunden später an meinen Stand vorbeikommt, hält nicht viel davon, alle Schuld bei Politikern und den vermeintlichen Eliten abzuladen. Die 29-jährige Krankenschwester aus einer Bochumer Notaufnahme macht nebenher einen Master in Berufspädagogik. Ihr praktisches Beispiel für allzu-einfaches Schwarz-Weiß-Denken: der Beruf ihres Vaters.
Christina Decken: "Mein Vater war Banker, und immer haben Leute gesagt, was, Bankmanager, das sind asoziale Schweine, die rauben nur andere aus. Na ja, habe ich gesagt, so asozial finde ich meinen Vater gar nicht. Ne, dein Vater ist ok, den habe ich jetzt nicht gemeint. Dieses Polarisieren auch, nur die Funktion sehen, nicht den Menschen dahinter. Ich finde auch, dass durch diese schnelle Entwicklung von den elektronischen Medien so ein bisschen eine Entmenschlichung stattfindet. Die Leute wollen immer alles, sofort und ohne Aufwand, weil: Ich kann’s ja anklicken. Nein, so funktioniert das nicht."

Tag 5 - Kampf um die Spielregeln der Demokratie

Der letzte Tag meines Zuhör-Projekts ist angebrochen. Und eines der letzten Gespräche führe ich mit ihr.

"Ich bin Kathrin Klimke-Jung, und ich sitze hier, weil ich total neugierig bin auf eine Demokratie-Sprechstunde. Die habe ich in 53 Jahren noch nie genossen."
Kathrin Klimke-Jung ist gewohnt, Tacheles zu reden, sagt sie. Als Mutter von zwei pubertierenden Kindern müsse sie das. Und sie ist davon überzeugt, dass der eigentliche Kampf um die Demokratie keine direkte Auseinandersetzung mit populistischen Kräften sei. Vielmehr sei es ein Kampf um die demokratischen Spielregeln – und darum, ob man diese Spielregeln auch einhält, wenn es schwerfällt, schmerzt – oder Zitat "ätzend" ist.
Ihr Beispiel: Der Deutsche Bundestag hat wenige Monate vor der Bundestagswahl beschlossen, seine Regeln für die Besetzung des Alterspräsidenten im Parlament zu ändern. Statt der älteste, soll künftig nur noch der dienstälteste Parlamentarier die prestigeträchtige erste Rede im neuen Parlament halten dürfen. Ein Entschluss, der einige aussichtsreiche ältere Herrschaften aus den Reihen der AfD ausschließt. Kathrin Klimke-Jung.

"Und dass ich dann alles so kungle, dass das nicht passiert, das finde ich nicht ok. Also Spielregeln sind Spielregeln, die wir uns gegeben haben. Und dann müssen wir die auch einhalten, wenn es einfach mal ätzend ist. Ok, dann müssen die Anderen halt lauter schreien und dagegen steuern. Aber, man muss die Spielregeln einhalten. Und ich finde, Demokratie schafft sich selbst ab, wenn ich alles wachsbutterweich mache, wie es eben politisch auch opportun ist. Das ist nicht korrekt. Das ist auch keine Demokratie für mich."
Wer sich an die Spielregeln halte, und deren Einhaltung auch konsequent einfordere, der erspare sich manches "Opfer-Gejaule" von Parteien an den extremen Rändern, schiebt sie hinterher. Und dass, so ist Kathrin Klimke-Jung überzeugt, helfe dann auch im Umgang mit deren Wählern.

Mir geht’s immer gar nicht so sehr um die AfD. Ich finde diese Politiker ätzend, ich finde die total engstirnig und das sind sicherlich nicht Leute, mit denen ich ein gemeinsames Abendbrotessen mit Freunden verbringen würde. Aber, die vertreten eine Menge Leute. Und ich glaube, die Art und Weise, wie ich mit der AfD umgehe, ist ja auch eine Art und Weise, wie ich mit den Stellvertretern dieser Menge an Menschen umgehe, die diese Politik und diese Partei stützt.

Fazit - Demokratie beginnt mit uns

Eine Woche Demokratie-Sprechstunde. Rund 80 Gespräche, zwischen fünf Minuten und zwei Stunden. Bei bisweilen 35 Grad im Schatten. 11 Flaschen Wasser, zwei Packs Ersatzbatterien fürs Aufnahmegerät und drei volle Speicher-Karten. Was bleibt?
"Zuhören kann auch anstrengend sein. Das habe ich jetzt auch gelernt - diese Woche."
Kathrin Klimke-Jung: "Aber gut, dass sind sie als Journalist auch gewohnt. Wenn sie nicht zuhören können, können sie ihren Job an den Nagel hängen."
"Das stimmt. Aber man muss sich dessen auch immer wieder vergewissern."
Und was gilt es jetzt zu tun – mit der Demokratie – mit uns? Vorschläge habe ich einige gesammelt. Die allermeisten dieser Vorschläge beginnen nicht irgendwo: sondern bei uns.
Christina Decken rät: "Vorbild sein, bei sich selbst anfangen, selber mal das scheiß Telefon wegstecken. Die Welt um sich rum angucken. Selber mal den Popo hochkriegen und was bewegen. Und wenn es nur bei sich im Zimmer mal aufräumen ist, ja, das ist der erste Schritt. Dann finde ich vielleicht irgendwie einen Brief, von jemand dem ich lange nicht geschrieben habe. Dann schreib ich dem, soziale Kontakte, rausgehen, einfach mal was bewegen, was verändern, worauf man schon immer Lust hatte. In kleinen Schritten. Ich kann nicht die Welt retten, spontan, das geht nicht. Aber ich kann sie besser machen."
Eine Sozialpädagogin rät: "Also ich sehe auf der einen Seite Desinteresse und auf der anderen Seite Engagement. Aber ich glaube, es müssen mehr Räume geschaffen werden, wo Demokratie auch eingeübt werden kann. Also wo ein Dialog, wo ein Diskurs, eingeübt werden kann."
Jannick, Abiturient, 19 Jahre, ab August im freiwilligen sozialen Jahr, rät: "Das Wichtigste ist, glaube ich, gerade das Internet zu nutzen. Wir haben WhatsApp, wir haben Twitter, wir haben Facebook, wir haben Tumblr, wir haben Instagram, wir haben alles. Diese Kanäle sollten viel besser und viel professioneller von der Politik genutzt werden. Um viel viel mehr Werbung für die Politik zu machen. Oder auch zum Beispiel Fernsehshows. Und dass finde ich auch wichtig, dass man solche Shows benutzt, was heißt unterschwellig, als wäre es total normal. Als wäre Politik so was wie Deutsch, Mathe, Englisch. Oder quasi wie aufs Klo gehen."
Der anonyme Grundgesetz-Verweigerer rät: "Kritischer sein, wenn man den Begriff Demokratie hört. Demokratie ist etwas, was im eigenen Innersten passiert."
Und was raten andere mir?
"Ich denke mir, dass es mehr hilft, entspannter mit extremen Gedanken umzugehen, als verängstigt."
"Was würden sie mir denn raten?"
"Mehr Grundzuversicht, würde ich ihnen raten. Und mehr jedenfalls im Kleinen tun, als besorgt auf das Große zu achten."
"Vielen Dank!"
Und vielleicht, denke ich, könnte einer dieser nächsten, kleinen Schritte ja sein, die Demokratie-Sprechstunde einfach zu wiederholen. So dass wir nicht nur aus dem Wahlkreis 140, Bochum I, hören. Sondern eben auch aus allen anderen 298 Wahlkreisen im Bundesgebiet. Was sich, ehrlich gesagt, nach ganz schön viel Zuhör-Arbeit anhört! Für heute ist es deshalb gut.
"Ja, die Demokratie-Sprechstunde ist: beendet. Und jetzt möchte ich das machen, was sie alle in Bochum gerne machen."
"Bitteschön. Eine Currywurst mit Toast. 2,30 bitte … Danke … Mmhh, so eine echte Bochumer Curry-Wurst. Lecker!"
"Bitte schön?"
"Ich hoffe, dass die demokratiefreundlichen Kräfte gestärkt werden. Deswegen war ich auch so interessiert an diesem Stand hier, weil ich dachte, vielleicht meldet sich da irgendeine Bewegung, mit der ich mich vereinigen kann."
"Die Bewegung ist erst mal ich, die ihnen zuhört."
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