Problemkind der Theatergeschichte

Von Frieder Reininghaus |
Robert Schumanns "Genoveva" hatte schon zu Entstehungszeiten ein schwieriges Schicksal: Sie erinnert an jene Kreuzritter-Opern, die schon 1830 abgetan waren. Zugleich weist sie voraus auf Wagners Tristan und Isolde. Den dramaturgischen Schwächen der Schumann-Oper versucht Regisseur Martin Kušej durch eine extrem zurückgenommene Inszenierung zu begegnen.
Es sei, so wurden die erwartungsfroh gestimmten Operngänger in Zürich vorab instruiert, ein "wahrhaftiger Herzenswunsch von Nikolaus Harnoncourt" gewesen, an einer szenischen Aufführung von Robert Schumanns "Genoveva" mitzuwirken, die er bereits zweimal im Konzert dirigierte. Denn Harnoncourt, der dem Züricher Opernhaus einst mit einem Monteverdi- und einem Mozart-Zyklus höchste Meriten erwarb, ist von der Idee durchdrungen, Schumann sei "mit diesem Werk eine Neuerfindung der Oper gelungen". Ja, es handle sich um die "bedeutendste Opernkomposition in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts". Man müsse sich ihr eben nur auf die richtige Weise nähern: "Man darf in dieser Oper keine dramatische Handlung suchen. Sie ist ein Blick in die Seele."

Letzteres gilt für dieses musikdramatische Werk wie für sehr viele andere, zumal des 19. Jahrhunderts. Doch hinsichtlich der Genese der "Genoveva" irrt der ansonsten in historischen Fragen einigermaßen beschlagene Musiker Harnoncourt gründlich: Die Entstehungsgeschichte von Schumanns einziger Oper gehört in Gänze der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts an - angefangen von der Rezeption des Tieckschen Trauerspiels "Leben und Tod der heiligen Genoveva" (1799), auf die sich 1841 Friedrich Hebbels "Genoveva"-Tragödie bezog und die dann, als Hebbel für Schumann nicht tätig werden wollte, zur Libretto-Bearbeitung durch den literarisch versierten Komponisten und den mit ihm befreundeten Rheinlieddichter Robert Reinick sowie zur Ausarbeitung der Partitur zwischen April 1847 und August 1848 führte.

Den Handlungsrahmen geben dem "romantischen" Werk die von Karl Martell angeführten Kämpfe des "christlichen Abendlands" gegen die Sarazenen oder "Mauren" im 8. Jahrhundert (gattungsspezifisch handelt es sich bei "Genoveva" um eine Nachzüglerin jener "Kreuzritter"-Opern, die spätestens 1830 abgetan waren; dass Schumann an diesem restaurativ-romantischen Sujet dennoch festhielt, deutet an, dass er seiner obersten ästhetischen Maxime, allemal "auf der Höhe der Zeit" zu sein, bei seinem ambitionierten Vorstoß aufs Operngenre nicht gerecht wurde).

Gleichwohl erscheint auch heute Genoveva noch als ein Werk, das auch "vorausweist" - stofflich wie in einigen entscheidenden Details der musikalischen Gestaltung - auf Richard Wagners "Tristan und Isolde". Nicht anders als dort geht es bei Schumann um die Verwirklichung von illegitimem Liebeswunsch - allerdings ist er hier einseitig. Bei Schumann küsst Golo, der vom Pfalzgrafen Siegfried vor seinem Ausritt gegen die Ungläubigen als Beschützer der frisch angetrauten Gattin bestellte Hausmeier, die ihm Anvertraute als diese ob des Abschiedsschmerzes in Ohnmacht fiel. Des weiteren aber weist sie alle Annäherungsversuche entschieden zurück. Die vom Leben (und womöglich vom Held Siegfried) enttäuschte, in okkulten Künsten bewanderte Amme Margarethe beobachtet die Ungeheuerlichkeit und kann sich so in die Intrige einschalten.

Zu bewundern ist, welche harmonischen Farben, welche rhythmische Prägnanz die Kräfte des Bösen freisetzen und sich in die Ströme der frömmelnden Musik mischen. Allerdings macht sich, anders als bei rhythmischer einfacher strukturierter älterer Musik, bei der mit vertrackten Synkopen gespickten Musik Schumanns das Fehlen der klassischen Kapellmeister-Voraussetzungen bei Nikolaus Harnoncourt schmerzlich bemerkbar: da geht, sosehr er sich um Ausdruck und Inbrunst bemüht, allzu viel zwischen Bühne und Graben nicht miteinander und viele Mitglieder der Kapelle haben ihre liebe Mühe mit den Seitwärts-Ruderbewegungen des auratischen alten Herrn der Alten Musik.

Als Glücksfall für die Züricher Neuproduktion erwies sich ein Fund in Robert Schumanns Tagebüchern:

"Ach, eine Welt ohne Menschen, was wäre sie? Ein toter Guckkasten ohne Figuren ... Diese Welt mit Menschen, was ist sie? Ein stummer Guckkasten mit weinenden Figuren".

Rolf Glittenberg stellte für Martin Kušejs stark zurückgenommene Inszenierung einen solchen Kasten zu Verfügung: ganz in Weiß und im Hintergrund der Bühne. In ihm sind die vier Protagonisten meist gleichzeitig anwesend, ohne von sich wechselseitig mehr als unbedingt nötig Notiz zu nehmen und sich gelegentlich, dann aber ggf. heftig zu berühren: die nicht immer treffsichere, aber wunderlich introvertiert und fragil wirkende Sopranistin Juliane Banse in der Titelpartie und der vorzügliche Tenor Shawn Mathey als "Bösewicht", das heißt Triebtäter Golo. Dazu der distinguierte Bariton Martin Gantner als kriegspflichtbewusster Pfalzgraf und zäher Rekonvaleszent sowie Cornelia Kallisch als die mit den Mächten des Teufels im Bunde stehende Amme.

Einzig für die an die Sensenmänner des Dresdener Aufstands von 1849 erinnernden Krieger und für jene Schlüsselszene, in der Graf Siegfried mit einem Zauberspiegel Bilder von der angeblichen Untreue Genovevas vorgegaukelt werden, füllen und illuminieren sich die seitlichen Gänge und der vordere Teil der Bühne: ein Chor von Chirurgen umzingelt über einer hell erleuchteten Fläche das nackte Trugbild Genovevas.

Der Protagonistin wird durch Golos Intrige die Ehre geraubt - Kušej zeigt die Besudelung unmittelbar durch die Schmutzspuren, welche die Hände der geifernden Choristinnen auf ihrem Kleid hinterlassen. Der Lynchmord am getreuen Drago wird gebührend blutig ins Bild gesetzt, auch seine Wiederkehr als Komtur-Figur. Mit Stentor-Stimme singt Alfred Muff der Amme ins Gewissen. Das verhindert die Vollstreckung der vom Grafen gegen seine Frau ohne Anhörung oder gar Prozess verfügte Hinrichtung, ermöglicht die wie eine Nötigung wirkende glückliche Fügung des neuerdings auf Gottvertrauen abhebenden Finales.

Schumanns Oper hat mehr als eine dramaturgische Schwäche. Ihr Frauenbild wie ihr Frömmeln war schon 1848 obsolet - und die Darstellung der kampfbereiten Massen vorm Hintergrund der Dresdner Bürgerkriegskämpfe 1849 erst recht. Martin Kušej hat sich mit einer Inszenierung aus der Affäre gezogen, die der Musik weithin ungeschmälert den Vortritt ließ und darauf spekuliert, dass dies die Seelenverhältnisse hinreichend ausleuchtet.

Die Anspielung auf die Gefangenenhaltung à la Abu Gharib ziehen ebenso wenig wie die auf Genoveva geschleuderten toten Fische der modifiziert konzertanten Aufführung politische Gräten ein. Schumanns "Genoveva" bleibt ein Problemkind der Theatergeschichte.