Problembereinigt und durchgängig schön

Von Frieder Reininghaus |
Das Festival d’Aix-en-Provence, vor sechzig Jahren mit Mozarts Musik und dem erklärten politischen Willen zu einer grenzüberschreitenden europäischen Kultur ins Leben gerufen, zeichnet sich in diesem Jahr durch eine starke Präferenz für deutsche Komponisten aus: Neben der "festen Säule" Mozart dominieren Richard Wagner, Joseph Haydn und der bis ans Lebensende recht deutsch gebliebene Georg Friedrich Händel das Programm.
Nicht nur die Inszenierung von Händels "Belshazzar" wurde aus einem der benachbarten Länder übernommen (von der Berliner Staatsoper), sondern auch die zum Auftakt gezeigte Aufbereitung von Wolfgang A. Mozarts "Zaide". Dabei handelte es sich im Kern um eine Produktion, die bereits vor zwei Jahren in einem verranzten Jugendstil-Theater am Rande Wiens gezeigt wurde. Dort, im Psychiatrischen Krankenhaus auf der Baumgartnerhöhe, wurde das Mozart-Fragment durch eine Bühneninstallation von George Tsypin ins Milieu einer modernen Sklavenhaltergesellschaft gerückt: Auf einem schmalen Metallgerüst vor einer Blechwand, gegen die immer wieder in bedrohlicher Weise geschlagen wird, drängen sich viele Arbeitsplätze: Nähmaschinen, unter denen Migranten schlafen. Peter Sellars hatte zunächst Experten für Menschenhandel und eine Asylbewerberin zu moralischen Appellen auf die Bühne gebeten – aus ihren Hinweisen auf akute Probleme entwickelte sich der Theaterabend. Doch dieser sozialpolitische Zugang zu der ansonsten dünnen Produktion wurde in Aix einfach weggekürzt, nicht etwa (zum Beispiel angesichts des nahen Mittelmeers mit seinen vielen toten Boat-People!) aktualisiert. Man will sich in der Sommerfrische eben nicht mit Problemen konfrontieren. Und die Festivalbetreiber meiden tunlichst die Herausforderungen der Gegenwart.

Mit viel buntem Lichtspiel aufgelockert mied Stéphane Braunschweigs Inszenierung des "Siegfried" alle tiefersitzenden Problempotenziale des Werks. Schlicht bespielt wurde die Leere vor einem Geviert beziehungsweise nach hinten spitz zulaufenden Dreieck von grauen Platten. Vor denen hob sich der in jeder Hinsicht robuste Ben Heppner durch sein kariertes Flanellhemd und verschwitztes T-Shirt deutlicher ab als die graue Arbeitskleidung von Burkhard Ulrich (vorzüglich als Schmied Mime!). Oder die überwiegend graue Rentner-Kostümierung von Alberich Dale Duesing und Wanderer Willlard White. Problembereinigter und beiläufiger vorgestellt war das zweite Hauptstück der Tetralogie von Richard Wagner wohl kaum je zu sehen. Die Berliner Philharmoniker durchmaßen mit Liebe zum Detail die Partitur; Simon Rattle dirigierte zügig, doch auch mit organischen Atempausen. Freilich schien die Begeisterung mit den überbewerteten Musikern immer wieder durchzugehen. Sie spielten sich zu lautstark in den Vordergrund und verfehlten so ihre Aufgabe im Gesamtkunstwerk – ein kaum zu entschuldigender Mangel an Professionalität!

Die Uraufführung der Kammeroper "Passion" von Pascal Dusapin, dem gegenwärtig wohl meistbeschäftigten französischen Opern-Lieferanten, war eine postmoderne Auseinandersetzung mit den drei musikdramatischen Hauptwerken Claudio Monteverdis: Dusapin dekonstruierte Passagen aus "L’Orfeo", "Poppea" und "Ulisse", montierte dann aus den Fortspinnungen dieser Motive eine Annäherung an verschiedene Gemüts- und Körperzustände (wie Freude und Schmerz, Schrecken und Entzücken, Liebe und Angst). Eine Handlung erwächst nicht aus dem vorwaltend ruhigen Dialog zwischen einer Frau und einem Mann. Nicht einmal ein konsistenter Textzusammenhang. SIE und ER befinden sich im Dauerzustand der aneinander vorbeizielenden Kommunikation. Wo Worte nichts mehr vermögen, greift die Musik: So entwickelt die feinsinnige Lineatur von "Passion eine spezifische Form musikalischer Poesie. Die vermag zwar buchstäblich nichts mehr auszusagen, suggeriert dies zum Ausgleich jedoch umso intensiver. Und vielleicht ist nichts so signifikant für den gegenwärtigen Opernbetrieb als solches Schaumschlagen. Namhafte deutsche Musikforscher früherer Generationen bezeichneten Produkte dieser Art in der ihnen eigenen Direktheit als "Afterkunst". Doch kann Dusapins Meta-Musik für sich in Anspruch nehmen, dass auch ihr Idenspender Monteverdi an etwas sehr Altem anknüpfte: an einer Projektion von altgriechischer Tragödie.