Privilegiert, und doch bemitleidenswert

Paul Wittgenstein, Bruder des berühmten Philosophen Ludwig, litt schwer unter der eisernen Fuchtel seines Vaters. Zwar mangelte es ihm materiell an nichts, da die Familie schwer reich war, doch plagte er sich mit Neurosen und Angstzuständen. Am Beispiel Paul Wittgensteins illustriert Lea Singer eine untergehende Epoche und eine großbürgerliche Welt am Vorabend des Ersten Weltkriegs.
Das Drama des begabten Kindes muss immer fortgeschrieben werden, denn das Thema ist unerschöpflich. Nun hat sich die Kulturhistorikerin Eva Gesine Baur, die unter dem Pseudonym Lea Singer auch Romane schreibt, eines weiteren begabten Kindes angenommen, das es in sich hatte. Von Paul Wittgenstein, dem weniger bekannten, aber nicht minder begabten Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein, handelt ihr neuestes Buch. Tief taucht die Autorin dabei wieder ein in jene Welt, mit der sie bestens vertraut ist, wie nicht zuletzt ihre letzte Veröffentlichung, die in diesem Frühjahr erschienene Monographie "Freuds Wien", bezeugte.

Wieder also ist die Donaumetropole um die Jahrhundertwende der Schauplatz. Wieder geht es um die gehobenen Stände mit ihren Neurosen, Obsessionen, Hysterien. "Die Krupps der Habsburger Monarchie" hat man die Familie Wittgenstein genannt, die dank des skrupellosen Raubritter-Kapitalismus des Vaters von Paul und Ludwig und den anderen Kindern einen sagenhaften Reichtum ihr Eigen nannte.

Doch Karl war auch Freund der Künste, ließ Maler für sich malen, Komponisten für sich komponieren. Darin folgte ihm sein Sohn Paul, ein begnadeter Pianist, nach. Für ihn schrieben Ravel und Prokofjew, Richard Strauss und Erich Wolfgang Korngold, Paul Hindemith und Benjamin Britten Stücke - immer für die linke Hand, denn seine rechte verlor Paul im Ersten Weltkrieg.

Was diese Auftragkompositionen angeht, so sind sie aber doch so ziemlich das Einzige, was Paul seinem Vater nachmachte. Er litt wie alle seine Geschwister, von denen sich mehrere das Leben nahmen, unter der eisernen Fuchtel des unerbittlichen Vaters, der seine Kinder gefühlskalt und autoritär bis zum Äußersten zur Exzellenz, zur ganz besonders herausragenden Begabung antrieb. Paul Wittgenstein konnte sich nur retten durch ein Doppelleben, durch die Flucht in Kunst und Musik.

Doch auch die emotionalen Verhärtungen waren - ganz so wie bei den anderen Geschwistern, seien sie nun weiblichen oder männlichen Geschlechts - bei Paul erheblich. Lea Singer alias Eva Gesine Baur beschreibt das Leben dieses Paul Wittgenstein in einem wohltuend sachlichen Ton. Doch sie verschweigt auch, sie erspart uns nichts. Nichts Menschliches scheint dieser Frau, die durch die Schule Freuds gegangen ist, fremd zu sein. Am Leitfaden der inneren und äußeren Biographie ihres Helden Paul gibt sie einen Panoramaausblick auf das bürgerliche Horror-Kabinett zu dessen Hochzeit in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch in der Epoche nach der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

Man erfährt viel vom Leben der Künste und Kultur jenes europäischen Jet-Sets, der sich ein Leben jenseits der Zwänge kleiner Leute leisten konnte. Man erfährt nicht minder viel über die Verheerungen, die das Massensterben in den Jahren 1914 bis 1918 anrichtete sowie über die politischen Radikalisierungen, die die Zeit darauf prägten und in jene schreckliche Phase mündeten, da auch jenen Menschen nach dem Leben getrachtet wurde, die wie die Wittgensteins für Geld fast alles ermöglichen konnten - weil sie Juden waren.

Wie sie sich 1938 nach dem Anschluss Österreichs retten konnten, durch einen quasi privaten Deal mit höchsten NS-Funktionären: das ist nur eine von vielen schier unglaublichen Episoden aus dem Leben der Schönen, Reichen, Mächtigen, für die noch in finstersten Zeiten andere Gesetze galten als für Normalsterbliche.

Doch das Sensationelle, Effekthascherische beherrscht bei Lea Singer nicht die Szene. Immer behält sie den roten Faden konsequent im Blick. Und den bildet das innere Drama eines Mannes, der unter extrem privilegierten Bedingungen sein neurotisch-psychotisches Ich in den Griff zu kriegen sich bemüht: das Ich jenes begabten Kindes, das über den Status des Kindseins erst sehr spät hinausgekommen ist.

Rezensiert von Tilman Krause

Lea Singer: Konzert für die linke Hand
Hoffmann und Campe, Hamburg 2008
464 Seiten, 22 EUR