Privatjets und Fünfjahrespläne
China gilt immer noch als sozialistisches Land. Doch in vielerlei Hinsicht geht es in der Volksrepublik kapitalistischer zu als in Deutschland. Verbraucher wie Unternehmer haben alle Freiheiten - solange sie die Macht der kommunistischen Partei nicht in Frage stellen.
"Der Osten ist rot, die Sonne geht auf. China hat Mao Zedong hervorgebracht. Er plant Glück für das Volk. Hurra, er ist der große Erlöser des Volkes."
Der Osten ist rot – während der Großen Proletarischen Kulturrevolution in den 1960er-Jahren nahm dieses Loblied auf Mao Zedong beinahe den Status einer Nationalhymne ein. "Mao liebt das Volk", heißt es weiter im Text. "Er führt uns, um das neue China aufzubauen." Der Kontrast dieser Worte zur Realität könnte größer kaum sein. Als Mao Zedong 1976 stirbt, hinterlässt er ein Land am Boden. Die Versorgungslage ist kritisch. Staat und Wirtschaft sind zerrüttet, die geistigen Eliten beseitigt. Ein funktionierendes Bildungssystem gibt es nicht mehr.
Lichtjahre entfernt erscheint heute das China von Mao Zedong und der Kulturrevolution. Im ganzen Land gibt es mehr als acht Millionen Privatunternehmen und Hunderttausende ausländische Investitionen. Kommerz und Werbung ziehen sich durch alle Lebensbereiche. Geld bestimmt den Alltag, obwohl die Gehälter nach wie vor um ein Vielfaches unter denen in Westeuropa liegen. Wer im Krankenhaus nicht sofort bezahlen kann, wird oft nicht behandelt. Rund eine Million Dollar-Millionäre leben im Land. Viele führen einen ausschweifenden Lebensstil in einer Welt der Privatjets und Präsidentensuiten. China wirkt in vielerlei Hinsicht kapitalistischer als Deutschland. Doch ist es ein kapitalistisches Land? Der Wirtschaftswissenschaftler Li Weisen von der Shanghaier Fudan-Universität weist das zurück.
"Um China zu beschreiben, greifen die herkömmlichen Theorien und Beispiele nicht. Auf dem Weg von einer Plan- zur Marktwirtschaft hat China ein einzigartiges System geschaffen. Die Leute im Westen verstehen das nicht. Wirtschaftswissenschafter verstehen es nicht. Sogar die Chinesen selbst verstehen es nicht."
In seiner politischen Grundstruktur ist China nach wie vor kommunistisch. Der Staatsapparat, die zentrale Rolle der Partei, der Zentralismus, die autoritäre Herrschaft folgen noch immer dem alten russisch-sowjetischen Modell. Es gibt noch immer Fünfjahrespläne mit Zielmarken für die Wirtschaftsentwicklung.
Die Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping führte zu einer förmlichen Explosion des Privatsektors, fast so, als hätten Millionen Chinesen nur darauf gewartet, sich unternehmerisch zu betätigen, besonders in den Küstenregionen. Ein Wirtschaftswunder erlebte in den vergangenen drei Jahrzehnten etwa die Stadt Wenzhou südlich von Shanghai gelegen. In dieser Region allein sind 200.000 mittelständische Unternehmen entstanden, die vor allem Exportartikel produzieren. Auch ausländische Unternehmen durften ins Land strömen und billig produzieren. Sie brachten Technologie und Know-how. Anderswo wuchsen in nur wenigen Jahren privatwirtschaftliche Weltkonzerne heran. Ein prominentes Beispiel ist der Telekommunikationsausrüster Huawei aus dem südchinesischen Shenzhen. Das Unternehmen baut alles von Handy-Antennen bis zu kleinen Internet-Sticks. Hu Xiaohui ist ein Produktmanager in der Shanghaier Niederlassung der Firma:
"Die Entwicklung der Firma während unserer 23-jährigen Geschichte ist beeindruckend. Wir sind jetzt in mehr als 140 Ländern der Welt vertreten. Von den 50 Top-Unternehmen in unserer Branche sind 45 unsere Partner. Wir erreichen mit unseren Angeboten ein Drittel der Weltbevölkerung. Bei der Gründung 1987 hatte die Firma zehn Mitarbeiter. Das Kapital betrug 3000 US-Dollar. Im Jahr 2010 stellte Huawei zirka 120.000 Mitarbeiter weltweit ein. Und unser Verkaufsvolumen betrug 28 Milliarden US-Dollar."
Chinas Privatsektor, vor gut 30 Jahren noch nicht existent, umfasst heute 75 Prozent aller Unternehmen. In den Städten arbeiten mehr als 80 Prozent der Berufstätigen in privaten Firmen. Doch das heißt nicht, dass sich die kommunistische Partei aus dem Wirtschaftsleben zurückgezogen hätte. Im Gegenteil. Staat und Partei sind in China aufs Engste miteinander verwoben. Der Arm der Partei reicht durch alle Verwaltungsebenen bis hinab in die kleinsten Dörfer. Wer in China ein Geschäft oder Unternehmen führt, kommt an den Funktionären nicht vorbei, braucht ihr Wohlwollen, etwa wenn es um Lizenzen oder Bauland geht. Korruption ist allgegenwärtig.
Wie gut beide Seiten miteinander können, lässt sich gleich am Geburtsort der Kommunistischen Partei beobachten, in einem Shanghaier Altstadthaus. Hier wurde die Partei 1921 gegründet. Das Haus ist heute ein Museum. Rings herum ist vor einigen Jahren das Luxusviertel Xintiandi entstanden. Ein 150-Millionen-Dollar-Investitionsprojekt. Teure Boutiquen reihen sich an Edelrestaurants. Unkommunistischer könnte ein Ort kaum sein. Doch der Museumsleiter Ni Xingxiang sieht das gar nicht so.
"Kommunismus definiert sich doch nicht darüber, was die Leute tragen oder essen. Vor 90 Jahren gründeten Mao und seine Kollegen hier die Kommunistische Partei. Sie wollten das Leben der Menschen verbessern und erreichen, dass das chinesische Volk sich erhebt und genauso gut lebt wie die Menschen in den entwickelten Ländern. Jetzt haben wir Xintiandi gleich nebenan. Chinesen können sich jetzt das gleiche Lebensniveau leisten. Glauben Sie denn nicht, Mao wäre darüber glücklich, wenn er noch leben würde?"
Man mache sogar gegenseitig füreinander Werbung, sagt Ni - Xintiandi für das Kommunismus-Museum und das Museum für das Ausgeh- und Shopping-Viertel.
Längst dürfen Privatunternehmer Mitglieder der Kommunistischen Partei werden. Und damit nicht genug. Liang Wengen ist der Gründer von Sany. Die Firma stellt Baumaschinen her. Liang ist laut Forbes-Magazin der reichste Chinese mit einem Vermögen von fast zehn Milliarden US-Dollar. Er wechselt nun in die Politik und soll ein einflussreiches Amt in seiner Heimatprovinz Hunan bekommen. Der Historiker Zhu Xueqin:
"Die Kommunistische Partei Chinas unterscheidet sich von anderen kommunistischen Parteien in der Welt. Sie ist anders als die SPD in Deutschland, die älteste sozialistische Partei der Welt, und anders als die kommunistische Partei in der Sowjetunion. Die Parteien in Europa sind sehr fundamentalistisch. Für sie ist die ideologische Integrität das Wichtigste. Sie machen keine Kompromisse, wenn sie auf Probleme im echten Leben stoßen."
Nicht so die Kommunistische Partei Chinas. Unter Mao führt sie eines der radikalsten linken Gesellschaftsexperimente in der Geschichte durch. Dann schwenkt sie um, führt China in eine Welt des kapitalistischen Gewinnstrebens, des Kommerzes, der sozialen Unterschiede.
Ein Musik-Video, das im Internet mit großem Erfolg zuletzt die Runde machte. Mehrere junge Frauen treten auf. Der Text ist deutlich:
"Was ein Mädchen will, ist ein Auto und eine Wohnung. Den richtigen Kerl zu heiraten, ist der größte Traum. Deshalb frage ich Dich: Hast Du Auto und Wohnung? Wenn Du kein Auto und keine Wohnung hast, dann hau ab und steh mir nicht im Weg!"
Materielle Werte stehen im heutigen China hoch im Kurs. Die wirtschaftlichen Reformen haben einem großen Teil des Volkes ungeahnte Konsummöglichkeiten eröffnet. Der überbordende Materialismus, wie in dem Internet-Song beschrieben, ist mittlerweile ein gesellschaftliches Thema. Während die Regierung nach wie vor jegliche oppositionelle politische Beteiligung unterbindet und ihre Kritiker mit aller Härte verfolgt, erlaubt und fördert sie den Warenkonsum. Die Chinesen haben als Verbraucher alle Freiheiten. Dafür ist die Alleinherrschaft der Partei unantastbar. Die Einführung kapitalistischer Elemente hat nicht zu einer grundsätzlichen politischen Liberalisierung geführt.
Selbst im Wirtschaftsleben herrscht nur eine partielle Freiheit. Weite Bereiche sind nach wie vor staatlich dominiert und ohne Transparenz. Auf den strategisch wichtigen Kerngebieten der Wirtschaft gibt die Partei keine Macht ab. Finanzwesen, Telekommunikation, Rohstoffe, Energie, Verkehr. Das ist die verschlossene Welt der großen Staatskonzerne. Der Wirtschaftswissenschaftler Li Weisen:
"Ein großer Staatskonzern ist heute wie eine ganze Gesellschaft. Zum Beispiel die vier staatseigenen Banken, die Ölkonzerne Sinopec und Petro China oder die großen Eisenbahnkonzerne. Der Vorsitzende eines solchen Konzerns ist verantwortlich für ein ganzes Königreich. Innerhalb dieses Königreichs gibt es eine starke Hierarchie und eine große Bevölkerung."
Einige dieser Staatsbetriebe gehören zu den größten Konzernen der Welt mit Hunderttausenden von Mitarbeitern. Chinas Ölfirmen etwa sind rund um den Globus auf der Suche nach Rohstoffen. Die Eisenbahnkonzerne bauen Bahnlinien in Myanmar oder Nordafrika. Die Regierung und damit die Partei besetzt die Top-Posten bei diesen Giganten, sagt Li Weisen:
"Die Manager in den Staatskonzernen können auch auf Posten in der Regierung wechseln und umgekehrt. Wenn jemand lange in einem Ministerium gearbeitet hat, wird er oft in einen Staatsbetrieb versetzt. Da ist die Bezahlung meist besser. In den meisten staatseigenen Konzernen ist der Parteichef auch der Vorstandsvorsitzende. Das Unternehmen hat ein Vorstandsgremium wie im Westen. Aber gleichzeitig gibt es noch die Partei-Gruppe. Und der Partei-Chef ist eben auch Chef des Vorstands."
Es ist nur wenig bekannt über das Innenleben und das Machtgefüge der großen Staatskonzerne. Gerüchten zufolge kontrollieren hochrangige Funktionäre die Unternehmen, zuweilen angeblich auch mit Hilfe ihrer Familienangehörigen. Beobachter vermuten die reichsten Chinesen nicht auf der veröffentlichten Forbes-Liste, sondern unter den grauen Eminenzen der Staatskonzerne. Li Weisen:
"Wer sind die Reichen in China? Die an der Macht und in der Nähe der Macht. Viele Privatunternehmer sind nicht reich, sondern haben Schulden. Macht ist der Weg zum Geld. Und das liegt daran, dass das Machtgefüge nicht ausbalanciert ist."
Mit den großen Staatsbetrieben hat die Regierung ein schlagkräftiges Instrument zur Hand, um die schnell wachsende Wirtschaft mit Rohstoffen, Infrastruktur und Aufträgen zu versorgen. Doch die staatlichen Kolosse bergen auch Nachteile. Oftmals arbeiten sie ineffizient. Wegen der bequemen Förderung durch die Regierung können sie zudem in andere Sektoren hineinwachsen und die private Konkurrenz zerstören. Sie entwickeln sich leicht zum Staat im Staate, dienen einzelnen Machtgruppen statt dem großen Ganzen. Und es entstehen Monopole. Die Konzerne können konkurrenzlos Preise diktieren. Auch das gesamte Finanzwesen ist stark reglementiert, und das nicht nur weil die wichtigsten Banken alle in Staatsbesitz sind. Chinas Währung, der Yuan, ist nicht frei konvertierbar, und auch der Wechselkurs ist von der Regierung festgesetzt – zum Wohle der heimischen Exporteure. Peking kontrolliert alle Geldströme, die ins Land hinein- oder aus dem Land herausfließen. Damit schirmt die Regierung die heimische Wirtschaft vor ausländischem Spekulationsgeld und Einfluss ab.
Peking greift – in kommunistischer Tradition – stark ins Wirtschaftsgeschehen ein. Dass der Staat eine zentrale Rolle spielt, spiegelt sich auch in der Wohlstandsverteilung wider, sagt Chen Zhiwu, Wirtschaftsprofessor in Yale:
"Die Regierung verfügt über den größten Teil des Reichtums im Land. Eine wichtige Frage ist ja, wie Wohlstand zwischen der Regierung und der Gesellschaft aufgeteilt ist. Nach meinen Berechnungen hat sich das Einkommen der Regierung seit 1995 verzehnfacht. In der gleichen Zeit wuchs das verfügbare Einkommen der Stadtbewohner nur um das 2,2-fache."
In manchen ländlichen Regionen herrscht immer noch große Armut, ist die Infrastruktur nach wie vor auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Doch der Fortschritt erfasst immer mehr Gebiete. Bei verschiedenen Armutsindikatoren kann China rasante Verbesserungen vorweisen. Die Kindersterblichkeit war in den 50er-Jahren noch zehnmal so hoch wie heute. Und nach Angaben der Weltbank können mittlerweile 99 Prozent der 15- bis 24-Jährigen lesen und schreiben.
Doch die Kosten für diesen sozialen Fortschritt sind hoch.
Der Shanghaier Stadtteil Kangqiao, ganz im Südosten der Metropole. Hier wurde bei 25 Kindern Blei im Blut nachgewiesen. Im Verdacht stehen die Emissionen einer Batteriefabrik in der Nachbarschaft. Die Bewohner reden sich ihre Wut von der Seele. Bauer Chen:
"Wir wussten nichts von der Verschmutzung. Und jetzt frage ich die Regierung: Wie konnte es sein, dass eine solche Firma überhaupt erlaubt wurde. Hier hat sich insgesamt die Umwelt verschlechtert. Hier in den Bächen gab es mal Fische, Krabben und Krebse. Jetzt lebt da nichts mehr. Das Wasser stinkt und wir wollen noch nicht einmal damit in Kontakt kommen."
Ein Beispiel von Zigtausenden in China. 30 Jahre Wirtschaftsboom haben die Umwelt stark zerstört. Der ökologische Schaden entspricht laut Schätzungen jedes Jahr etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Chinas kommunistisch-kapitalistisches Misch-System erzeugt auch immer größere soziale Spannungen. Zwar geht es fast allen Chinesen heute materiell besser als vor 20 oder 30 Jahren. Doch manchen geht es nur ein wenig besser, während andere abenteuerlich reich wurden. Die Schere zwischen arm und reich hat sich gefährlich weit geöffnet. Die soziale Ungleichheit ist mittlerweile größer als in den Vereinigten Staaten. Das haben Soziologen berechnet.
Chinas autoritäres politisches System bietet aber keine Mechanismen an, soziale Konflikte auszutragen und zu befrieden: kaum Meinungsfreiheit, keine politische Einflussnahme. Der Ärger macht sich oft unkontrolliert und spontan Luft. Die in Hongkong ansässige Organisation China Labour Bulletin schätzt, dass in ganz China pro Jahr 30.000 Streiks in Firmen stattfinden. Das ist an sich illegal, aber die Arbeiter sind selbstbewusster geworden. Sie fordern mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen.
33 Jahre nach dem Beginn der Wirtschaftsreformen steht China an einem Scheideweg. Zhu Xueqin:
"Wenn Sie mich fragen, wie die Zukunft dieses Landes aussieht, wo Kommunismus und Kapitalismus geheiratet haben, kann ich nur sagen: Wir müssen noch Geduld haben. Das Stück ist erst zur Hälfte vorbei. Ob es als Komödie oder Tragödie endet, werden wir erst in der zweiten Hälfte sehen."
Der Osten ist rot – während der Großen Proletarischen Kulturrevolution in den 1960er-Jahren nahm dieses Loblied auf Mao Zedong beinahe den Status einer Nationalhymne ein. "Mao liebt das Volk", heißt es weiter im Text. "Er führt uns, um das neue China aufzubauen." Der Kontrast dieser Worte zur Realität könnte größer kaum sein. Als Mao Zedong 1976 stirbt, hinterlässt er ein Land am Boden. Die Versorgungslage ist kritisch. Staat und Wirtschaft sind zerrüttet, die geistigen Eliten beseitigt. Ein funktionierendes Bildungssystem gibt es nicht mehr.
Lichtjahre entfernt erscheint heute das China von Mao Zedong und der Kulturrevolution. Im ganzen Land gibt es mehr als acht Millionen Privatunternehmen und Hunderttausende ausländische Investitionen. Kommerz und Werbung ziehen sich durch alle Lebensbereiche. Geld bestimmt den Alltag, obwohl die Gehälter nach wie vor um ein Vielfaches unter denen in Westeuropa liegen. Wer im Krankenhaus nicht sofort bezahlen kann, wird oft nicht behandelt. Rund eine Million Dollar-Millionäre leben im Land. Viele führen einen ausschweifenden Lebensstil in einer Welt der Privatjets und Präsidentensuiten. China wirkt in vielerlei Hinsicht kapitalistischer als Deutschland. Doch ist es ein kapitalistisches Land? Der Wirtschaftswissenschaftler Li Weisen von der Shanghaier Fudan-Universität weist das zurück.
"Um China zu beschreiben, greifen die herkömmlichen Theorien und Beispiele nicht. Auf dem Weg von einer Plan- zur Marktwirtschaft hat China ein einzigartiges System geschaffen. Die Leute im Westen verstehen das nicht. Wirtschaftswissenschafter verstehen es nicht. Sogar die Chinesen selbst verstehen es nicht."
In seiner politischen Grundstruktur ist China nach wie vor kommunistisch. Der Staatsapparat, die zentrale Rolle der Partei, der Zentralismus, die autoritäre Herrschaft folgen noch immer dem alten russisch-sowjetischen Modell. Es gibt noch immer Fünfjahrespläne mit Zielmarken für die Wirtschaftsentwicklung.
Die Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping führte zu einer förmlichen Explosion des Privatsektors, fast so, als hätten Millionen Chinesen nur darauf gewartet, sich unternehmerisch zu betätigen, besonders in den Küstenregionen. Ein Wirtschaftswunder erlebte in den vergangenen drei Jahrzehnten etwa die Stadt Wenzhou südlich von Shanghai gelegen. In dieser Region allein sind 200.000 mittelständische Unternehmen entstanden, die vor allem Exportartikel produzieren. Auch ausländische Unternehmen durften ins Land strömen und billig produzieren. Sie brachten Technologie und Know-how. Anderswo wuchsen in nur wenigen Jahren privatwirtschaftliche Weltkonzerne heran. Ein prominentes Beispiel ist der Telekommunikationsausrüster Huawei aus dem südchinesischen Shenzhen. Das Unternehmen baut alles von Handy-Antennen bis zu kleinen Internet-Sticks. Hu Xiaohui ist ein Produktmanager in der Shanghaier Niederlassung der Firma:
"Die Entwicklung der Firma während unserer 23-jährigen Geschichte ist beeindruckend. Wir sind jetzt in mehr als 140 Ländern der Welt vertreten. Von den 50 Top-Unternehmen in unserer Branche sind 45 unsere Partner. Wir erreichen mit unseren Angeboten ein Drittel der Weltbevölkerung. Bei der Gründung 1987 hatte die Firma zehn Mitarbeiter. Das Kapital betrug 3000 US-Dollar. Im Jahr 2010 stellte Huawei zirka 120.000 Mitarbeiter weltweit ein. Und unser Verkaufsvolumen betrug 28 Milliarden US-Dollar."
Chinas Privatsektor, vor gut 30 Jahren noch nicht existent, umfasst heute 75 Prozent aller Unternehmen. In den Städten arbeiten mehr als 80 Prozent der Berufstätigen in privaten Firmen. Doch das heißt nicht, dass sich die kommunistische Partei aus dem Wirtschaftsleben zurückgezogen hätte. Im Gegenteil. Staat und Partei sind in China aufs Engste miteinander verwoben. Der Arm der Partei reicht durch alle Verwaltungsebenen bis hinab in die kleinsten Dörfer. Wer in China ein Geschäft oder Unternehmen führt, kommt an den Funktionären nicht vorbei, braucht ihr Wohlwollen, etwa wenn es um Lizenzen oder Bauland geht. Korruption ist allgegenwärtig.
Wie gut beide Seiten miteinander können, lässt sich gleich am Geburtsort der Kommunistischen Partei beobachten, in einem Shanghaier Altstadthaus. Hier wurde die Partei 1921 gegründet. Das Haus ist heute ein Museum. Rings herum ist vor einigen Jahren das Luxusviertel Xintiandi entstanden. Ein 150-Millionen-Dollar-Investitionsprojekt. Teure Boutiquen reihen sich an Edelrestaurants. Unkommunistischer könnte ein Ort kaum sein. Doch der Museumsleiter Ni Xingxiang sieht das gar nicht so.
"Kommunismus definiert sich doch nicht darüber, was die Leute tragen oder essen. Vor 90 Jahren gründeten Mao und seine Kollegen hier die Kommunistische Partei. Sie wollten das Leben der Menschen verbessern und erreichen, dass das chinesische Volk sich erhebt und genauso gut lebt wie die Menschen in den entwickelten Ländern. Jetzt haben wir Xintiandi gleich nebenan. Chinesen können sich jetzt das gleiche Lebensniveau leisten. Glauben Sie denn nicht, Mao wäre darüber glücklich, wenn er noch leben würde?"
Man mache sogar gegenseitig füreinander Werbung, sagt Ni - Xintiandi für das Kommunismus-Museum und das Museum für das Ausgeh- und Shopping-Viertel.
Längst dürfen Privatunternehmer Mitglieder der Kommunistischen Partei werden. Und damit nicht genug. Liang Wengen ist der Gründer von Sany. Die Firma stellt Baumaschinen her. Liang ist laut Forbes-Magazin der reichste Chinese mit einem Vermögen von fast zehn Milliarden US-Dollar. Er wechselt nun in die Politik und soll ein einflussreiches Amt in seiner Heimatprovinz Hunan bekommen. Der Historiker Zhu Xueqin:
"Die Kommunistische Partei Chinas unterscheidet sich von anderen kommunistischen Parteien in der Welt. Sie ist anders als die SPD in Deutschland, die älteste sozialistische Partei der Welt, und anders als die kommunistische Partei in der Sowjetunion. Die Parteien in Europa sind sehr fundamentalistisch. Für sie ist die ideologische Integrität das Wichtigste. Sie machen keine Kompromisse, wenn sie auf Probleme im echten Leben stoßen."
Nicht so die Kommunistische Partei Chinas. Unter Mao führt sie eines der radikalsten linken Gesellschaftsexperimente in der Geschichte durch. Dann schwenkt sie um, führt China in eine Welt des kapitalistischen Gewinnstrebens, des Kommerzes, der sozialen Unterschiede.
Ein Musik-Video, das im Internet mit großem Erfolg zuletzt die Runde machte. Mehrere junge Frauen treten auf. Der Text ist deutlich:
"Was ein Mädchen will, ist ein Auto und eine Wohnung. Den richtigen Kerl zu heiraten, ist der größte Traum. Deshalb frage ich Dich: Hast Du Auto und Wohnung? Wenn Du kein Auto und keine Wohnung hast, dann hau ab und steh mir nicht im Weg!"
Materielle Werte stehen im heutigen China hoch im Kurs. Die wirtschaftlichen Reformen haben einem großen Teil des Volkes ungeahnte Konsummöglichkeiten eröffnet. Der überbordende Materialismus, wie in dem Internet-Song beschrieben, ist mittlerweile ein gesellschaftliches Thema. Während die Regierung nach wie vor jegliche oppositionelle politische Beteiligung unterbindet und ihre Kritiker mit aller Härte verfolgt, erlaubt und fördert sie den Warenkonsum. Die Chinesen haben als Verbraucher alle Freiheiten. Dafür ist die Alleinherrschaft der Partei unantastbar. Die Einführung kapitalistischer Elemente hat nicht zu einer grundsätzlichen politischen Liberalisierung geführt.
Selbst im Wirtschaftsleben herrscht nur eine partielle Freiheit. Weite Bereiche sind nach wie vor staatlich dominiert und ohne Transparenz. Auf den strategisch wichtigen Kerngebieten der Wirtschaft gibt die Partei keine Macht ab. Finanzwesen, Telekommunikation, Rohstoffe, Energie, Verkehr. Das ist die verschlossene Welt der großen Staatskonzerne. Der Wirtschaftswissenschaftler Li Weisen:
"Ein großer Staatskonzern ist heute wie eine ganze Gesellschaft. Zum Beispiel die vier staatseigenen Banken, die Ölkonzerne Sinopec und Petro China oder die großen Eisenbahnkonzerne. Der Vorsitzende eines solchen Konzerns ist verantwortlich für ein ganzes Königreich. Innerhalb dieses Königreichs gibt es eine starke Hierarchie und eine große Bevölkerung."
Einige dieser Staatsbetriebe gehören zu den größten Konzernen der Welt mit Hunderttausenden von Mitarbeitern. Chinas Ölfirmen etwa sind rund um den Globus auf der Suche nach Rohstoffen. Die Eisenbahnkonzerne bauen Bahnlinien in Myanmar oder Nordafrika. Die Regierung und damit die Partei besetzt die Top-Posten bei diesen Giganten, sagt Li Weisen:
"Die Manager in den Staatskonzernen können auch auf Posten in der Regierung wechseln und umgekehrt. Wenn jemand lange in einem Ministerium gearbeitet hat, wird er oft in einen Staatsbetrieb versetzt. Da ist die Bezahlung meist besser. In den meisten staatseigenen Konzernen ist der Parteichef auch der Vorstandsvorsitzende. Das Unternehmen hat ein Vorstandsgremium wie im Westen. Aber gleichzeitig gibt es noch die Partei-Gruppe. Und der Partei-Chef ist eben auch Chef des Vorstands."
Es ist nur wenig bekannt über das Innenleben und das Machtgefüge der großen Staatskonzerne. Gerüchten zufolge kontrollieren hochrangige Funktionäre die Unternehmen, zuweilen angeblich auch mit Hilfe ihrer Familienangehörigen. Beobachter vermuten die reichsten Chinesen nicht auf der veröffentlichten Forbes-Liste, sondern unter den grauen Eminenzen der Staatskonzerne. Li Weisen:
"Wer sind die Reichen in China? Die an der Macht und in der Nähe der Macht. Viele Privatunternehmer sind nicht reich, sondern haben Schulden. Macht ist der Weg zum Geld. Und das liegt daran, dass das Machtgefüge nicht ausbalanciert ist."
Mit den großen Staatsbetrieben hat die Regierung ein schlagkräftiges Instrument zur Hand, um die schnell wachsende Wirtschaft mit Rohstoffen, Infrastruktur und Aufträgen zu versorgen. Doch die staatlichen Kolosse bergen auch Nachteile. Oftmals arbeiten sie ineffizient. Wegen der bequemen Förderung durch die Regierung können sie zudem in andere Sektoren hineinwachsen und die private Konkurrenz zerstören. Sie entwickeln sich leicht zum Staat im Staate, dienen einzelnen Machtgruppen statt dem großen Ganzen. Und es entstehen Monopole. Die Konzerne können konkurrenzlos Preise diktieren. Auch das gesamte Finanzwesen ist stark reglementiert, und das nicht nur weil die wichtigsten Banken alle in Staatsbesitz sind. Chinas Währung, der Yuan, ist nicht frei konvertierbar, und auch der Wechselkurs ist von der Regierung festgesetzt – zum Wohle der heimischen Exporteure. Peking kontrolliert alle Geldströme, die ins Land hinein- oder aus dem Land herausfließen. Damit schirmt die Regierung die heimische Wirtschaft vor ausländischem Spekulationsgeld und Einfluss ab.
Peking greift – in kommunistischer Tradition – stark ins Wirtschaftsgeschehen ein. Dass der Staat eine zentrale Rolle spielt, spiegelt sich auch in der Wohlstandsverteilung wider, sagt Chen Zhiwu, Wirtschaftsprofessor in Yale:
"Die Regierung verfügt über den größten Teil des Reichtums im Land. Eine wichtige Frage ist ja, wie Wohlstand zwischen der Regierung und der Gesellschaft aufgeteilt ist. Nach meinen Berechnungen hat sich das Einkommen der Regierung seit 1995 verzehnfacht. In der gleichen Zeit wuchs das verfügbare Einkommen der Stadtbewohner nur um das 2,2-fache."
In manchen ländlichen Regionen herrscht immer noch große Armut, ist die Infrastruktur nach wie vor auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Doch der Fortschritt erfasst immer mehr Gebiete. Bei verschiedenen Armutsindikatoren kann China rasante Verbesserungen vorweisen. Die Kindersterblichkeit war in den 50er-Jahren noch zehnmal so hoch wie heute. Und nach Angaben der Weltbank können mittlerweile 99 Prozent der 15- bis 24-Jährigen lesen und schreiben.
Doch die Kosten für diesen sozialen Fortschritt sind hoch.
Der Shanghaier Stadtteil Kangqiao, ganz im Südosten der Metropole. Hier wurde bei 25 Kindern Blei im Blut nachgewiesen. Im Verdacht stehen die Emissionen einer Batteriefabrik in der Nachbarschaft. Die Bewohner reden sich ihre Wut von der Seele. Bauer Chen:
"Wir wussten nichts von der Verschmutzung. Und jetzt frage ich die Regierung: Wie konnte es sein, dass eine solche Firma überhaupt erlaubt wurde. Hier hat sich insgesamt die Umwelt verschlechtert. Hier in den Bächen gab es mal Fische, Krabben und Krebse. Jetzt lebt da nichts mehr. Das Wasser stinkt und wir wollen noch nicht einmal damit in Kontakt kommen."
Ein Beispiel von Zigtausenden in China. 30 Jahre Wirtschaftsboom haben die Umwelt stark zerstört. Der ökologische Schaden entspricht laut Schätzungen jedes Jahr etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Chinas kommunistisch-kapitalistisches Misch-System erzeugt auch immer größere soziale Spannungen. Zwar geht es fast allen Chinesen heute materiell besser als vor 20 oder 30 Jahren. Doch manchen geht es nur ein wenig besser, während andere abenteuerlich reich wurden. Die Schere zwischen arm und reich hat sich gefährlich weit geöffnet. Die soziale Ungleichheit ist mittlerweile größer als in den Vereinigten Staaten. Das haben Soziologen berechnet.
Chinas autoritäres politisches System bietet aber keine Mechanismen an, soziale Konflikte auszutragen und zu befrieden: kaum Meinungsfreiheit, keine politische Einflussnahme. Der Ärger macht sich oft unkontrolliert und spontan Luft. Die in Hongkong ansässige Organisation China Labour Bulletin schätzt, dass in ganz China pro Jahr 30.000 Streiks in Firmen stattfinden. Das ist an sich illegal, aber die Arbeiter sind selbstbewusster geworden. Sie fordern mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen.
33 Jahre nach dem Beginn der Wirtschaftsreformen steht China an einem Scheideweg. Zhu Xueqin:
"Wenn Sie mich fragen, wie die Zukunft dieses Landes aussieht, wo Kommunismus und Kapitalismus geheiratet haben, kann ich nur sagen: Wir müssen noch Geduld haben. Das Stück ist erst zur Hälfte vorbei. Ob es als Komödie oder Tragödie endet, werden wir erst in der zweiten Hälfte sehen."