"Prinzip ist unbürokratische Hilfe"

Klaus Schäfer im Gespräch mit Joachim Scholl · 13.12.2010
Klaus Schäfer, Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen beim Runden Tisch Heimerziehung, verteidigt die vorgestellte Entschädigungslösung. Der Fonds sei mit 120 Millionen Euro gut ausgestattet. Man werde "zu einem gerechten Verfahren kommen".
Joachim Scholl: Es war und ist neben dem Missbrauchsskandal der Kirchen der zweite große Schock für die deutsche Nachkriegspädagogik, die Tragödie der Heimkinder. Fast zwei Jahre hat nun ein runder Tisch getagt. Unter dem Vorsitz von Antje Vollmer ging es um körperliche wie seelische Schäden, unter denen frühere Heimkinder kirchlicher wie staatlicher Einrichtungen bis heute leiden. Und es ging um Entschädigungen, heute nun wurde der Abschlussbericht vorgelegt.

Ich bin jetzt verbunden mit Klaus Schäfer, Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen, er saß als Vertreter seines Landes am runden Tisch. Guten Tag, Herr Schäfer!

Klaus Schäfer: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: In Irland entschädigt man die misshandelten Heimkinder mit einer Summe von circa 75.000 Euro. Warum wird die Summe für die deutschen Betroffenen so viel niedriger ausfallen?

Schäfer: Also ich glaube, dass man das erstens so nicht miteinander vergleichen kann, und wir haben uns am runden Tisch bemüht, eine sehr reale Perspektive auch für die Heimkinder zu entwickeln. Und mit 120 Millionen ist der Fonds, glaube ich, auch sehr gut ausgestattet. Wir werden helfen können, Folgeschäden zu beseitigen, und wir werden auch dort, wo Rentenansprüche bestehen, diese Rentenersatzansprüche regeln können. Und ich denke, das ist auch richtig so.

Scholl: Der Abschlussbericht stellt das Leid der Betroffenen deutlich heraus, die Institutionen bekennen sich zu ihrer Verantwortung, und doch entsteht jetzt der Eindruck, dass vor allem eine Hürde errichtet wird: Jeder Betroffene muss sein Leid praktisch beweisen. Wie soll das überhaupt gehen, Herr Schäfer, wir sprechen über Dinge, die vor 30 bis 40 Jahren passiert sind?

Schäfer: Also wir können natürlich überhaupt keine pauschale Regelung treffen, weil die Heimsituation völlig unterschiedlich war. Und das ist auch am runden Tisch deutlich geworden, das haben auch die ehemaligen Heimkinder am runden Tisch anerkannt. Es geht nicht um schlichtweg Beweisen, es geht um ein Glaubhaftmachen, jedenfalls auch dort, wo keine Akten mehr vorhanden sind. Insoweit wollen wir es versuchen, es außerordentlich unbürokratisch zu machen, wenn es dann zu diesem Fonds kommt. Und ich denke, das ist auch ein zumutbarer, weil auch begleitender Akt.

Scholl: Der frühere Vorsitzende des Vereins der ehemaligen Heimkinder, Hans-Jürgen Overfeld, hat gegenüber der Deutschen Presse Agentur gesagt, dass die wenigsten der Betroffenen ein solches Verfahren durchstehen würden. Die anderen würden darauf verzichten, weil sie nicht die Kraft dazu hätten. Ist dieser Gedanke am runden Tisch zur Sprache gekommen?

Schäfer: Wir haben sehr intensiv darüber diskutiert, was ist ehemaligen Heimkindern zumutbar? Wir wollen sie begleiten mit Fachexperten, die auch eine solche Begleitung so leisten können, dass die Zumutbarkeit für die Heimkinder gegeben ist, auch das wird bereits praktiziert. Wir beraten sie, wir begleiten sie, Experten werden in den Ländern bereitstehen. Und insoweit, glaube ich, ist das auch zumutbar.

Scholl: Gibt es denn schon ein Prozedere für einen entsprechenden Antrag und diese Gespräche, die dann stattfinden können?

Schäfer: Nein, das gibt es nicht. Die Länder werden jetzt entscheiden, wie sie mit dem Abschlussbericht des runden Tisches umgehen, der Bund auch, die Kirchen haben sich erklärt. Und ich gehe davon aus, erst dann, wenn der Fonds gegründet ist, wird es dann auch die entsprechenden formalen Aspekte geben. Darüber wird man noch intensiv beraten, in welcher Form sie gestaltet werden sollen. Prinzip ist unbürokratische Hilfe.

Scholl: Ja, aber unbürokratisch ... Wenn wir schon hören, ein Antrag, dann sozusagen: Renten sollen berechnet werden, Folgeschäden, eventuelle Therapien ... Also man sieht schon ein fünfseitiges oder 50-seitiges Formular vor sich. Wer wird hier den Betroffenen eigentlich zur Seite stehen?

Schäfer: Wir werden regionale Beratungsstellen haben, die auch helfen und auch den Betroffenen zur Seite stehen. Aber nun darf man auf Begriff "Antrag" nicht sofort sozusagen die bürokratische Klappe fallen lassen und sagen, das wird dann ein Wust von Lebenslaufdarstellungen, von Schilderungen, von Nachweisurkunden. So wird es, denke ich, nicht laufen. Es bleibt dabei: Wir wollen es unbürokratisch und rasch machen.

Scholl: Wie wird denn dann eine entsprechende Summe zu errechnen sein?

Schäfer: Das wird man abwarten müssen. Dazu hat der runde Tisch sich nicht positionieren können. Das wird dann im Detail noch von dem Fonds, wenn er eingerichtet wird, zu entscheiden sein. Bei der Rentenfrage wird es relativ einfach sein, denn da geht es um die Frage, ist für eine Arbeit Rentenversicherungsbeitrag geleistet worden oder nicht?

Scholl: Aber es wird auch entsprechende direkte Zahlungen an die Betroffenen geben?

Schäfer: Ich gehe davon aus, dass am Ende dann auch Zahlungen an die Betroffenen stehen kann. Ich will das jetzt nicht im Einzelnen bereits heute vorwegnehmen, dies wird dann auch der Fonds entscheiden.

Scholl: Nun haben wir den Vorwurf des Vereins von ehemaligen Heimkindern schon gehört, die dann gerechnet haben, ja 2000 bis 4000 Euro, das ist eigentlich lächerlich für ein verpfuschtes Leben, für eine Biografie, die sozusagen nur von Krankheit und Leid geprägt wurde.

Schäfer: Ich will mich dazu erst mal nicht äußern. Ich kann mir schon denken, dass es ehemalige Heimkinder gibt, deren Forderung weit über das, was wir jetzt erreicht haben, hinausgeht. Dies ist jetzt erreicht worden. Und im Übrigen bitte ich auch, es einmal zu vergleichen mit dem Entschädigungsfonds der Zwangsarbeiter, der keinesfalls hoch war. Also es gibt auch Vergleiche, wo sich auch dieser Vergleich sehen lassen kann.

Scholl: Bund, Länder, Kirchen sollen sich die Kosten teilen. Nach welchem Prinzip?

Schäfer: Das wird dann nach dem Ein-Drittel-Prinzip gehen. Kirchen ein Drittel, Bund ein Drittel und auch die Länder ein Drittel. Aber darüber werden die Länder jetzt beraten.

Scholl: Herr Schäfer, es wird doch vielleicht auch und vielleicht sogar sicherlich zu dieser Situation kommen, dass man einem Menschen sagen muss: Tut uns leid, dein Leid war nicht groß genug.

Schäfer: Ich bin mir da nicht sicher, ob das so geht. Wir werden uns jedenfalls – und ich gehe davon aus, die Experten werden dies tun –, sich sehr intensiv in die einzelne Situation hineinversetzen und da, wo geholfen werden kann, auch geholfen wird.

Scholl: Sie saßen als Vertreter des Landes Nordrhein-Westfalen am runden Tisch. Werden denn die anderen Länder in der Beziehung auch gleich mitziehen?

Schäfer: Ich saß am Tisch sozusagen als Experte, der vom Land Nordrhein-Westfalen entsandt wurde. Insoweit gehe ich davon aus, dass wir jetzt – und die Länder sind bereits zu einem Gespräch eingeladen worden –, dass wir jetzt mit den Ländern beraten, wie deren Entscheidung sozusagen in die Wege geleitet wird. Ich will das nicht prognostizieren, aber die Länder haben bisher immer gesagt, sie werden sich nach dem Abschlussbericht dazu positionieren, und das ist auch ein richtiges Verfahren.

Scholl: Wie wird sich der Bund daran beteiligen?

Schäfer: Der Bund wird sich sicherlich auch daran beteiligen, wenn sozusagen insgesamt Kirchen, Länder und der Bund als eine Gemeinschaft dastehen. Und ich bin zuversichtlich, dass was in dieser Richtung gehen kann.

Scholl: Wenn Sie nun, Herr Schäfer, eine persönliche Bilanz dieses runden Tisches, dieser nun fast zweijährigen Debatte auch ziehen: Wird am Ende wirklich eine Wiedergutmachung von Leid stehen, oder werden wir eigentlich mehr wieder von neuem Leid aufseiten der Betroffenen hören?

Schäfer: Also ich bin mir sicher, dass in den zwei Jahren eine ganz, ganz intensive und ehrliche Diskussion und Aufarbeitung der gesamten schwierigen Vergangenheit stattgefunden hat. Und die ehemaligen Heimkinder, die mit am runden Tisch saßen, können dies auch bestätigen. Dass am Ende vielleicht der ein oder andere eine andere Vorstellung hatte, will ich nicht ausschließen, aber ich glaube, dass wir zu einem gerechten Verfahren kommen.

Scholl: Der runde Tisch zur Situation der ehemaligen Heimkinder. Heute wurde der Abschlussbericht veröffentlicht, und bei uns im Gespräch war Klaus Schäfer, Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen und entsandt für sein Land als Abgeordneter am runden Tisch. Herr Schäfer, danke Ihnen für das Gespräch!

Schäfer: Bitte sehr, Herr Scholl!