Priester-Buch

Die Abgründe des Christentums

Holzkreuz in einer Kirche
"Der christliche Glaube kennt die Abgründe, die Ambivalenzen", sagt Heiner Wilmer. © AFP/Olivier Morrin
Von Stefanie Oswalt · 07.09.2014
Schluss mit den Gebetsfloskeln und dem weichgespülten Jesusbild: Der Herz-Jesu-Priester Heiner Wilmer sucht in seinem neuen Buch den wahren Zugang zu Gott - und offenbart dabei tiefe Einblicke in sein Glaubensverständnis.
Mehr Idylle geht nicht: Eine herrschaftliche Villa aus dem 19. Jahrhundert im Tudor-Stil. Ein großer Park mit altem Baumbestand drumherum, Sitzgruppen stehen darin, ein Gartengrill, Heiligenstatuen und ein Freiluftaltar. Dieses Paradies ist ein Sitz der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester. Hier hat Pater Heiner Wilmer sein Buch geschrieben.
"Wir sitzen hier nicht hinter Mauern, sondern es ist eher so die Dynamik, dass wir uns schon ein Stück weit zurückziehen, studieren, lesen, nachdenken, aber dann wieder zurück zur Welt, zu den Menschen, und dann auch mit anderen arbeiten. Wir sind nicht die Besserwisser, auf keinen Fall, sondern sind mit anderen unterwegs, ganz schlicht."
Wilmer ist Provinzial – also Regionalleiter der Herz-Jesu-Priester, die sich auch Dehonianer nennen – in Anlehnung an den Gründer ihres Ordens, den französischen Aristokraten Leon Gustav Dehons. Sie unterstützen weltweit soziale Projekte, kümmern sich etwa um benachteiligte und missbrauchte Kinder, leisten Bildungsarbeit und unterhalten in Handrup im Emsland auch ein Gymnasium. Über sein Leben im Dienste Gottes gibt Pater Wilmer nun Auskunft:
"Manchmal kann ich all das, was über Jesus gesagt wird, nicht mehr hören. Ich höre meine eigenen Predigten schließlich jeden Sonntag, und manchmal höre ich mir selbst beim Beten zu und merke, wie ich Floskeln und Palaver irgendwohin, in den Himmel, in die Dunkelheit schicke. Seltsamerweise erträgt Gott das."
Blut Christi berausche mich
Eigentlich hatte er ein ganz anderes Buch über seine Zeit als Lehrer an einer Schule für sozial benachteiligte Schüler in der New Yorker Bronx schreiben wollen, doch seine junge Lektorin interessierte sich für andere Fragen:
"Diese junge Frau, 28, kurz vor der Heirat, fragt mich dann immer in den Pausen: 'Pater Wilmer, wie stehen Sie eigentlich zum Glauben? Beten Sie eigenlich? Und wie machen Sie das? Sie sind doch zölibatär? Was bedeuten Ihnen eigentlich Frauen? Wie gehen Sie um mit Liebe, mit Gefühl? Was bedeutet für Sie Leid? Welchen Sinn sehen Sie im Leben?'"
Treu und brav, stammelnd und hakend habe er ihr geantwortet und sich schließlich überzeugen lassen, dass seine individuellen Antworten das interessantere Thema seien.
"Das einzige, was von diesem ursprünglich gedachten Buch stehen geblieben ist, ist dieses ominöse Gebet anima Christi / Seele Christi – irgendwie wie ein Steinbruch."
Dieses von der Passionsfrömmigkeit des 14. Jahrhunderts geprägte Gebet bildet die ordnende Grundstruktur des Buches. Die 17 Kapitel sind gewissermaßen Meditationen zu den Sätzen des Gebets: "Seele Christi, heilige mich. Leib Christi, rette mich. Blut Christi berausche mich." Wilmer gewährt einen tiefen Blick in sein Glaubensverständnis, etwa wenn er von der Erschütterung über die Abbildung eines gekreuzigten Hundes auf einem Gemälde von Francis Bacon berichtet:
"Das muss man sich mal vorstellen. Ich war Priester geworden, ich hatte meine Gelübde abgelegt auf diesen Jesus, ich betete jeden Tag zu ihm, ich hatte versprochen, mein Kreuz auf mich zu nehmen, ihm nachzufolgen, und nie, niemals hatte ich dieses Kreuz und den Gekreuzigten wirklich gesehen. Nie zuvor war mir die Entwürdigung und das Brutale aufgefallen so wie bei diesem Bild. Mir wurde klar, wie abgewaschen und weichgespült mein Jesusbild geworden ist."
Das gesamte Buch gilt der Selbstüberprüfung: Trägt mich der ursprüngliche Glaube noch, war die Entscheidung für den Orden – die Wilmer übrigens schon mit 19 Jahren traf – richtig?
"Der Glaube an Gott war nicht der Grund, ins Kloster zu gehen, sondern der Grund war: Mich hat das einfach fasziniert, ich fand das stark, fand das scharf, wie die leben, und ich hab gedacht: So kann ich glücklich werden."
"Ohne Jesus wäre ich heute vielleicht Bauer"
Die hellen Augen in seinem offenen, auch mit 53 Jahren noch sehr jugendlich wirkenden Gesicht strahlen das Gegenüber an. Noch heute wirkt er von seinem Entschluss überzeugt, auch wenn er im Klappentext freimütig bekennt:
"Das Anstrengende ist, dass mein ganzer Beruf, mein Lebenssinn auf diesem Jesus aufbaut, obwohl dessen Bedeutung mir manchmal abhanden kommt. Wenn es Jesus nicht gegeben hätte, wäre ich heute vielleicht Bauer, verheiratet, fünf Kinder, nettes Fachwerkhaus im Emsland."
Sehr persönlich schreibt Wilmer über seine Gefühle, Sehnsüchte, Ambivalenzen - etwa als er sich in eine Theologie-Kommilitonin verliebt. Er berichtet von der seelischen und emotionalen Nähe zu ihr und vom schließlichen Abbruch des Kontakts. Er hatte bereits die Keuschheitsgelübde abgelegt und beide wollten dies respektieren. Wohl auch wegen dieser Erfahrung kränkt Wilmer die Überheblichkeit manch ehemaliger Glaubensbrüder, die den Orden wegen einer Frau verlassen hätten:
"Als habe er vorher im Dunkel gelebt, und jetzt lebt er im Licht. Als sei er vorher überhaupt kein Mensch gewesen, zumindest keiner mit tiefen Gefühlen, großen Emotionen und grenzenloser Passion. Vor allem aber wird so getan, als habe das Priestersein nichts mit Liebe und Leidenschaft zu tun. Und genau das empfinde ich als Affront, als Angriff auf mich selbst und auf alle anderen Priester."
Dem stellt Wilmer seine Priesterweihe als sinnliche Erfahrung gegenüber.
"Ich liege da unten und werde von Stimmen und Gebet und Bitten getragen. Meine Stirn auf dem Rücken der Handflächen. Ich schließe die Augen und das innere Sehen beginnt. Ganz bei sich sein, sich begreifen, den eigenen Atem spüren, den Puls pochen hören, den Blick zum Anderen, zu Gott, im Du zum Ich werden und das Ich dem Du übergeben."
Wilmer hat in Geschichte promoviert. In dem Buch stellt er sich auch Fragen zum Nationalsozialismus. Er schreibt über die Gefahr der Verdrängung von Geschichte und reflektiert aus Anlass eines Besuchs in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem über die Abwesenheit Gottes angesichts der Ermordung tausender unschuldiger Kinder.
"Ich konnte da verstehen, warum Menschen den Glauben verlieren – absolut! Dann ging mir der Gedanke durch den Kopf: Wenn ich nicht irre werden will, muss es einen Gott geben. Denn sonst würde die Welt nur den Starken gehören."
"Ich denke, dass der Glaube viel mehr von der Welt weiß, wenn man ihn nicht zwingt 'nett' zu sein. Der christliche Glaube kennt die Abgründe, die Ambivalenzen. Die Ehrfurcht vor dem Leben entsteht nicht beim Sonntagsspaziergang. Sie muss den Abgründen abgerungen werden."
"Die Moral ist nicht das Zentrum des christlichen Glaubens"
Wilmers Gedanken bleiben strikt persönlich. Nie missioniert er, und das macht dieses Buch so erträglich. Zumal der Pater auch Verständnis dafür hat, dass viele Menschen sich heute in der katholischen Kirche nicht mehr beheimatet fühlen.
"Da frage ich mich manchmal kritisch, als Katholik, der Kirche angehörend: Und was bringen wir eigentlich? Was legen wir ins Schaufenster, wenn die zu uns kommen. Und wenn ich dann nochmal zurück schaue in die Bibel und mir die Gestalt des Mannes aus Nazareth vor Augen führe: Alle, die irgendwie zu dem kamen, sind frisch, bereichert von dem wieder weggegangen – gut, manchen hat er auch heftig ins Gewissen geredet, aber es hat irgendetwas gegeben. Bei uns hab ich manchmal das Gefühl, die kommen mit schleifenden, hängenden Schultern in die Kirche, und die gehen mit schleifenden, hängenden Schultern wieder raus."
Das Christentum müsse dem Menschen aber im Alltag helfen.
"Im 20. Jahrhundert ist die Moral ins Zentrum gerückt. Aber die Moral ist nicht das Zentrum des christlichen Glaubens. Zentrum des christlichen Glaubens ist die Frage: Wie kann ich frei sein? Wie kann ich erlöst werden, wie kann ich glücklich werden? Wie kann ich Ballast abwerfen, wie kann ich von meiner Angst geheilt werden? Das ist das Zentrum."
Seinen Weg zu Gott hat er im Buch darzustellen versucht. Aber er betont: Es ist nur einer. Und zitiert den emeritierten Papst Benedikt:
"Auf die Frage, wie viele Möglichkeiten des Glaubens es den gebe, hat er gesagt: So viele wie es Menschen gibt. Schöner Satz, finde ich, sehr befreiend und erfrischend, den sollte man öfter zitieren."

Heiner Wilmer: Gott ist nicht nett. Ein Priester fragt nach seinem Glauben
Herder Verlag 2013
208 Seiten, 16,99 Euro

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