Preußen ohne Preußen

Von Arkadiusz Luba |
Als der junge deutschstämmiger Pole aus dem einstmals ostpreußischen Gebiet nach Berlin und Brandenburg kam, war er enttäuscht. Nichts war von dem alten Preußen geblieben; nichts, von dem er in der ehemaligen östlichen Provinz dieses Landes hörte.
Er traf Leute, die an keine preußischen Idealen hielten, und Gebäude ohne den kulturellen und intellektuellen Geist jener Zeit. Lang und umsonst schien ihm der Weg von zu Hause in das Kernland des einst großen Königreichs zu sein. Und doch entschied er sich, hier zu bleiben und nach den verlorenen Spuren preußischer Geschichte zu suchen.

"Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?
Die Fahne schwebt mir schwarz und weiß voran!"

Ich habe schon mehrere Male versucht, meine Preußengeschichte zu erzählen. Immer vergebens. Immer fehlte der passende Anlass, immer war die Stimmung nicht gut genug. Bis ich mich entschieden habe, nach Brandenburg zu ziehen; in das Kernland jenes Staates, der später als Preußen in die Geschichte eingehen sollte. Hier residierten die brandenburgischen Herzöge, Kurfürsten und späteren preußischen Könige. Hier war der Keim des berühmten kriegerischen Staates, von dem ich zu Hause einiges gehört habe. Und von dieser Gegend erwartete ich, den aufklärerischen Geist Preußens wieder zu spüren.

Als ich mein Vorhaben verriet, sagte meine Familie sofort: Du wirst es bereuen, wenn du nach Berlin gehst. Das alte Preußen lebt nicht mehr. Und du hast da drüben nichts zu suchen.

Diese Behauptungen lösten bei mir sofort Widerstand aus. Wie? gibt es in Preußen kein Preußen mehr? Das kann doch nicht Wahr sein! Enttäuscht sollte ich werden? Wovon? Auch wenn unsere Familie eine der wenigen Ausnahmen war, so war doch in Ostpreußen alles Preußische vorbei! In Berlin und in seiner Umgebung würde ich schon noch welche Spuren der alten Tradition finden.

Ich bin vor dreißig Jahren in Allenstein geboren. Heute ist das Polen und die Stadt heißt eigentlich Olsztyn; sie ist von der berühmten Ermland- und Masuren-Gegend umgeben.

Was kann ich also als 30-Jähriger über die preußische Tradition wissen? Nun ja, meine Vorfahren stammen noch aus der richtigen östlichsten Provinz des Preußischen Königreichs. Und etwas davon, was sie geerbt haben, gaben sie mir noch auf den Weg. Ich kannte zum Beispiel die gotische Schriftart eher, bevor ich die lateinische lesen konnte. Ich bin Daheim in einer preußischen Kultur aufgewachsen und mit preußischen Werten konfrontiert worden. Ehre und Disziplin, Gemeinsinn und Loyalität waren die wichtigsten davon. Manchmal auch ganz schön anstrengend; besonders, wenn alles um mich herum nach anderen Werten handelte. In Berlin sollte es anders sein.

Als ich vor einem Jahr aus Ostpreußen nach Berlin kam, suchte ich instinktiv nach Spuren Preußens, nach der besonderen Kultur. Ich erwartete gleiche Tradition, ähnliche Mentalität und Werte. Ich sehnte mich danach, wovon ich in meiner Kindheit gehört habe.

Den ersten Schock erlebte ich gleich am Hauptbahnhof. Ich stand plötzlich mitten in einer Gegend, die mir fremd und abweichend erschien. Überall war etwas Chaotisches, etwas Beunruhigendes.

Ich nahm eine S-Bahn zur neuen Wohnung. Meine Mitreisende verhielten sich komisch. Ihnen fehlten gewisse Manieren. Von der typischen preußischen Anständigkeit und Höflichkeit war nicht viel übriggeblieben. Was ich gesehen habe, war reiner Kampf um die Plätze, um das Nach-innen-zu-gelangen.

Befremdend wirkte auf mich auch die Landschaft. Sie war viel mehr durch technische Zeichen geprägt. Die den Preußen so wichtige Naturnähe wurde in den Hintergrund geschoben. Von Gemeinschaftsleben konnte auch keine Rede sein. Hier ist jeder für sich alleine da, dachte ich. Man bleibt in seinem eigenen Viertel. Aus dem so genannten Kietz fährt man nicht in andere Stadtteile.

Lebendiger waren die Märkte, die immer samstags uns sonntags stattfanden. Dahin gingen alle aus der nahen Gegend. Hier plauderten sie, schrieen und tratschten. Das alles aber oberflächlich. Das Kommerzielle und nicht das Menschliche stand im Vordergrund.

Die Sprache, die ich überall hörte, klang seltsam. "Icke" und "juut", "wat" und "det" waren mir unbekannt. Berlinisch ist nicht Ostpreußisch, bayerische und sächsische Zunge noch weniger. Dieses "Unfeine", "Proletarische" oder sogar "Ungebildete" drang in den Ohren. Auf allen Ebenen wuchs meine Enttäuschung. Aber die Suche nach preußischen Spuren wollte ich jedoch nicht aufgeben. Das wäre ein Verstoß gegen die preußische Beharrlichkeit.

Überraschenderweise wurde meine Einstellung nicht komisch empfunden. Ich dachte, wenn sie alle schon so unpreußisch sind, werden sie mein Verhalten auch nicht akzeptieren können. Und doch das einzige, was sie verspottet haben, war der Begriff "Ostpreußen". Immer wieder unterstrichen sie, dass so was nicht existiert. Und immer wieder grinsten sie, wenn ich erwähnte, wo ich verwurzelt bin. "Du bist doch Pole und kein Ostpreuße!", sagten sie darauf. Ich fühlte mich trotzdem anders. Und ich wusste, womit ich gegenargumentieren konnte.

Die Bezeichnung "Preußen" hatte immer etwas Gezwungenes. Das einst gewesene Königreich war eine Ansammlung disparater, weit von einander entfernter Provinzen. Aus einer ehemaligen von ihnen kam ich. Von ihr war der Name des späteren preußischen Königreichs abgeleitet.

Der Deutsche Orden war an der Ostsee angesiedelt. Seit dem 13. Jahrhundert christianisierte er dort die heidnischen Pruzzen. Dem Culmer Land, was er besaß, wurde das gesamte Pruzzenland, also Prussen- und später Preußenland, unterworfen. Der Schlacht bei Tannenberg und dem 2. Thorner Frieden zufolge wurde aus dem Orden- ein Territorialstaat unter der polnischen Oberhoheit. Hochmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach machte aus dem Orden das erbliche Herzogtum Preußen. Und Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, erreichte im Frieden von Oliva im 17. Jahrhundert die Anerkennung der Souveränität dieses Landes. Schließlich krönte sich Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, gleich am Anfang des 18. Jahrhunderts im ostpreußischen Königsberg zum "König in Preußen". So hat die souveräne Provinz die Preußen-Geschichte gebranntmarkt, also sich ihr eingebrannt.

Sie machte aus einem Herzogtum ein Königreich und aus einem Kurfürsten einen König. Brandenburg wurde zur Zentralprovinz des preußischen Staates. Fortan nennen sich die Behörden und Armee "königlich". "Preußen" und "preußisch" bezeichnen den Gesamtstaat. Und das bis zur Reichsgründung, nachdem das alte Preußen durch das Kaiserreich ersetzt wird.

Nach dieser Feststellung hatte ich Ruhe. Meine preußische Erbschaft wurde anerkannt. Und ich wollte nun Orte finden, die noch vom preußischen Geist lebten. Ich wusste, dass ich aus Schöneberg muss, um die ersehnten Spuren entdecken zu können.

So stand ich ein paar Tage später im Lustgarten. Hinter mir rauschte der Springbrunnen, vor mir thronte der Berliner Dom. Ich schaute mich um. Ich wollte verstehen, warum dieser Ort so anziehend ist.

Ich stand im Herzen der Stadt. Die Gegend war von monumentalen Gebäuden umgeben und mit einem monumentalen Rostgerüst besetzt, das die Proportionen störte: der Rest vom Palast der Republik. Ersatz für das Berliner Stadtschloss. Alles, was an die alte königliche Macht erinnern könnte, musste entsorgt werden. Keiner hat damals gedacht, dass es das ästhetische Bild ruinieren würde.

Mir war die Debatte über Wiederaufbau des Schlosses bekannt. Ich kann mich noch erinnern, dass ich die Gegenstimmen unterstützte. Denn braucht Berlin ein Gebäude mehr, für das wir alle zahlen müssen? Inzwischen war ich einer anderen Ansicht. In dem Vorhaben sehe ich keine Sehnsucht nach Preußen-Nostalgie. Vielmehr wünschte ich mir die Wiederherstellung des einst zerstörten harmonischen und würdevollen Raumes. Das Alte Museum, das Zeughaus und Unter den Linden gehören dazu.

Hier, in der Mitte der Stadt, stand die Hauptresidenz der Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg. Später wohnten hier Könige in bzw. von Preußen und die Kaiser des Deutschen Reiches. Im 15. Jahrhundert war es erstmal eine unauffallende Burg, die mehrmals umgebaut wurde. Kurfürst Joachim II. ließ die spätmittelalterliche Burg weitgehend abtragen und an ihrer Stelle eine prachtvolle und bedeutsame Renaissance-Residenz errichten. Unter Kurfürst Friedrich III. kam es zum Ausbau des Schlosses zur großartigen Königsresidenz. Sie wurde zum bedeutendsten Profanbau des protestantischen Barocks. Zusammen mit den umliegenden Gebäuden ergab sich in der Mitte Berlins ein wunderbares architektonisches Ensemble.

Diesen Teil Berlins mag ich auch sehr gerne. Wenn ich am Bebelplatz stehe, spüre ich, wie die Geschichte über mich ergeht. In meiner Nähe die Oper, die Königliche Bibliothek, die Hedwigskirche, die Humboldt Universität – alles einzigartige Schätze der preußischen Kultur.

Dazwischen liegt eine breite Straße, ja ein Prachtboulevard. Anderthalb Kilometer lang ist der. Die Straße Unter den Linden, deren Bepflanzung Mitte des 17. Jahrhunderts begann, beraubt heute den Atem. Zwischen dem Stadtschloss und Tiergarten ist damals eine sechsreihige Allee von Linden und Nussbäumen entstanden. Eine Art Tunnel, der zum kurfürstlichen Jagdrevier im Grünen führte. Die Reihe von Bäumen ist inzwischen schmaler geworden. Berlin wurde stark bebaut.

Und dennoch: Ein paar Meter weiter, auf der Straße des 17. Juni, ist die alte Logik zu erkennen. Besitztümer von denen ich in Ostpreußen viel gehört habe, hatten über Jahrhunderte das Bild Preußens geprägt. Sie gehörten zum wichtigsten Bestandteil der Landschaftsgestaltung. Jede Gutsanlage war auf eine durchdachte Weise in die Landschaft hineinkomponiert worden. Im Zentrum stand das Herrenhaus, eine prachtvolle Villa oder ein Schloss. Dazu kamen die Parkanlagen, Obstgärten, Teiche. Die Baumgruppen oder auch einsame Eichen und Linden hatten ihre durchdachte Funktion. Sie sollten vor Wind und Schneegestöber schützen. Sie dienten als Grenz- und Wegmarkierungen. Sie vervollkommnten das ästhetische Landschaftsbild. Oft waren es die beliebten Spazier- und Reitwege der Gutsherren, die besonders als Alleen betont wurden. Genau wie die Straße Unter den Linden. An ihr wurde dann ein weiterer Weg angelegt. Dieser durchquerte den Tiergarten und verband das Stadtschloss mit dem Schloss Charlottenburg.

An dieser Achse, wie an einer Ader, fließen heute unzählige Fahrzeuge wie Blut vorbei. Strömungen von Touristen bewundern die Gegend. Der kulturelle Mikroorganismus lebt. Er ist noch viel mehr außerhalb der Stadt sichtbar. Mindestens in der Mentalität der Menschen. Sie sind viel mehr mit der Natur verbunden. Die Berliner Schnauze und Berliner Hektik fehlen ihnen. Sie sind ruhiger.

Aber nicht nur das Zentrum der Stadt trägt preußische Spuren. Im Nordwesten der Stadt liegt zum Beispiel das Schloss Tegel. Es wird auch Humboldt-Schlösschen genannt. Die Familie kaufte das Schloss 1765. Der Gründer der Berliner Universität, Wilhelm von Humboldt, wuchs hier auf. Und heute wohnt hier die Familie von Heinz – direkte Nachfahren der Familie von Humboldt.

Und quer gegenüber, im Südosten Berlins, steht das schöne Schloss Köpenick. Wer dachte schon, dass bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hier das Domizil der preußischen Könige war?

Auf dem Weg nach Potsdam bin ich über Kleinmachnow, Wannsee, Kienwerder gefahren. Die Bewohner dieser Gegend wirkten auf mich anders. Sie waren ärmer, aber auch gastfreundlicher. Ich musste feststellen, dass sich Brandenburger gerne unterhalten und alles erklären. Sie tratschen. Der freche Witz der Berliner war dagegen nicht vorhanden.

An das Preußische erinnerte mich noch, dass sich die Brandenburger mit der Natur verbunden fühlen. In ihrer Natur waren sie anständig, fürsorglich und sorgfältig. Ein Gemeinschaftsgeist schwebte zwischen den Haushalten. Ein Nachbar half dem anderen. Das fand ich in urbanisierten Teilen Brandenburgs seltener. Berlin zum Beispiel rebelliert ständig und wehrt sich gegen alle Regel. Ordnung ist ihr fremd. Diese preußische Tugend ist in der Stadt verloren gegangen. Daher stellt sie eine Insel dar, eine besondere Insel.

Erstaunlich, wie sich die preußische Erbschaft in verschiedenen Regionen des einst gewesenen preußischen Königreichs voneinander unterscheiden kann. Aber was war Preußen anderes, als eine Ansammlung disparater, weit verstreuter Gebiete, ohne natürliche Grenzen.

Preußen, damals. Preußen, heute. Damals war militärische Stärke Voraussetzung für die Entwicklung Brandenburg-Preußens zu einer der fünf europäischen Großmächte. Heute erinnert das Signet der Bundeswehr an das schwarze Kreuz der Deutschritter, das sie auf ihren weißen Mänteln schon im 14. Jahrhundert trugen. Doch die Zeiten haben sich verändert. Eroberung ist kein Ziel mehr.

Preußen lebt heute von was Anderem als vor Jahrhunderten. Wie der Januskopf, zeigt das Erbe Preußens in Berlin-Brandenburg sein Doppelgesicht. Die Ambivalenz ist an jeder Ecke spürbar. Einerseits ist alles modernisiert, andererseits gibt es überall Meilensteine der preußischen Vergangenheit. Jeder von diesen Meilensteinen ist Register eines wichtigen Geschehens. Jede alte Fassade erinnert an Architekten und Bewohner der Häuser; jedes Buch der Staatsbibliothek – an die Bücherverbrennung. Die Universitäten erinnern an die Philosophen und die Fundamente des Humanismus. Der Geist der Aufklärung schwebt unter dem Berliner Himmel. Viel mehr ist die Geschichte in der Topographie des Landes und der Mentalität der Menschen sichtbar. Der Geist des alten Preußen schwebt über die Alleen und Grundflächen. Die Toleranz und Vielfalt sind in den Vordergrund geraten.

Es gibt so viele Ausländer überall. Aber Preußen war dank staatlicher Befehle durchaus tolerant; sei es gegenüber den religiösen Minderheiten, sei es den Hugenotten, die hier ihre Zuflucht fanden. Nach Angaben des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg – was seine Genauigkeit angeht ein sehr "preußisches Amt für Statistik", wollte man fast sagen - zählt die Berlin-Brandenburgische Bevölkerung heute fast sechs Millionen Einwohner. Davon sind etwas über eine halbe Million melderechtlich registrierte Ausländer. Und immer wieder Leute, die nach der Aufklärung suchen und finden sie. So wie ich. Denn der Geist der preußischen Denker wie etwa Kants, Herders oder Fichtes, prägt die intellektuelle Verfassung dieses Landes bis heute.

Die stolzen preußischen Embleme verstecken sich. Wie etwa der große, ernst schauende schwarze Adler auf der Brücke am Schiffbauerdamm. Er sieht bescheiden aus, genagelt an die Brückenbalustrade. Der Bundesadler dagegen, so kommt es mir vor, lächelt ihm ironisch zu aus dem dahinter liegenden Reichstag. Aus welchem Grund auch immer. Ich bleibe also. Und ich werde noch mehr preußische Spuren finden.