Presse- und Informationsfreiheit

Wo bleibt der Aufschrei für Assange?

04:08 Minuten
Julian Assange blickt mit gestutztem Bart und streng frisierten Haaren aus einem Busfenster, in dem Gebäude reflektieren.
Julian Assange am 1. Mai 2019: Abtransport nach einer Gerichtsanhörung. Seit 11. April 2019 sitzt der Wikileaks-Gründer in britischer Haft. © picture alliance / AP Photo / Matt Dunham
Ein Kommentar von Milosz Matuschek · 16.08.2019
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Seit Monaten sitzt Julian Assange in einem Hochsicherheitsgefängnis. Die USA fordern seine Auslieferung. Westliche Intellektuelle, sonst für jeden Dissidenten schnell bei der Stange, rühren keinen Finger. Ein Skandal, meint der Jurist Milosz Matuschek.
Der chinesische Dissident Ai Weiwei wird sein Exil in Deutschland verlassen. Der Künstler beklagt: Deutschland sei keine offene Gesellschaft. Nicht der Geist der Freiheit wehe hier in Bezug auf China, sondern der Wind des Opportunismus.
Dissidenten haben oft eine geschulte Spürnase für gesellschaftliche Großwetterlagen. Wir müssen es also ernst nehmen, wenn wir selbst die Freiheitsvorstellungen eines chinesischen Dissidenten unterbieten.

Die Beißhemmung der Intellektuellen

Dabei erleben wir genau das gerade hautnah: Wikileaks-Chef Julian Assange schmort im britischen Hochsicherheitsgefängnis Prison Belmarsh. Die USA wollen seinen Kopf und drohen Assange mit 175 Jahren Haft wegen seiner Arbeit für Wikileaks, einem aus Sicht der USA "feindlichen, nicht staatlichen Geheimdienst".
Ai Weiwei steht in betont legerer Kleidung außerhalb eines Gefängnisses, umringt von Journalisten.
Nach dem Besuch bei Julian Assange: Der chinesische Künstler Ai Weiwei gibt eine Pressekonferenz.© picture-alliance/empics/Dominic Lipinski
Ai Weiwei besuchte den kranken Assange kürzlich in der Haft. Der Künstler ruft dazu auf, Assange nicht auzuliefern. Doch während im Westen Dissidenten aus China, der Türkei oder Russland wie Maskottchen verehrt werden, klemmt vielen westlichen Intellektuellen plötzlich die Tastatur, wenn es um Publizisten wie Julian Assange geht.

Hochverrat der Funktionärskaste

Dabei stehen in seinem Fall die Grundfesten der Demokratie auf dem Spiel: In einer Demokratie ist der Bürger der oberste Souverän im Staat. Entscheiden kann er nur auf Basis von Fakten. Wenn staatliche Stellen den Bürger belügen, ihn unter Verletzung seiner Grundrechte ausspitzeln und Kriegsverbrechen verheimlichen, ist das Band zwischen Repräsentant und Repräsentiertem durchschnitten. Das ist Hochverrat einer Funktionärskaste am Bürger, ein Putsch von oben.
Oder, um es mit Edward Snowden zu sagen: "Wenn das Aufdecken von Verbrechen wie ein Verbrechen behandelt wird, dann werden wir von Verbrechern regiert".

Die ersten Dissidenten des globalen Informationszeitalters

Doch im wirklichen Leben scheinen die Verbrechen der Mächtigen ungesühnt zu bleiben, während die Überbringer der Wahrheit im Exil oder in Gefängnissen als Staatsfeinde und Spione psychologisch gefoltert werden. Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für Folter Nils Melzer spricht von einer "Hexenjagd" gegen Assange. Der Wikileaks-Gründer zeige, so Melzer, "alle Symptome psychologischer Folter", sein Leben sei "wirklich in Gefahr".
Der Fall Assange zwingt uns dazu, der Realität in ihre hässliche Fratze zu blicken, mit der Gefahr, dass unser makellos demokratisches Selbstbild zerfliesst wie die Uhren von Dalí. Snowden, Assange und Manning sind ersten Dissidenten des globalen Informationszeitalters. Sie stehen für eine Zeitenwende: Weg von Vertrauen gegenüber Mächtigen, hin zur Pflicht zu Transparenz und Rechenschaft für die Mächtigen.

Gradmesser für die Demokratie

Assanges angeblich schwieriger Charakter und mögliche Verfehlungen jenseits von Wikileaks tun dabei nichts zur Sache. Er muss keinen Beliebtheitswettbewerb gewinnen.
Assange ist ein Dissident, der die Wahrheit ans Licht bringt, ohne die es keine Demokratie geben kann. Seine Veröffentlichungen auf Wikileaks stehen unter dem Schutz der Meinungs- Presse- und Informationsfreiheit. Selbst die Veröffentlichung der Clinton-Emails war von der Meinungsfreiheit gedeckt, wie kürzlich ein US-Bundesgericht bestätigte.
Das Wohl von Assange & Co. ist damit ein direkter Gradmesser für Demokratie. Solange er eingesperrt ist, bleiben wir es auch.

Solidarität mit der Wahrheit

Assange ist kein Amerikaner. Er ist nicht an US-Sicherheitsgesetze gebunden. Wird er an die USA ausgeliefert und dort verurteilt, kann morgen jeder Publizist, Journalist oder Intellektuelle der Welt wegen Spionage in den USA verurteilt werden. Und zwar für die Veröffentlichung von unangenehmen Wahrheiten für Mächtige.
Solidarität mit Assange ist Solidarität mit der Wahrheit. Letztere siegt zwar am Ende immer, aber in einer funktionierenden Demokratie siegt sie eben sofort, hier und jetzt.
Wer darauf wartet, dass die Geschichte Assange Recht gibt, hat Demokratie nicht verstanden– und damit nicht verdient, frei zu sein.

Milosz Matuschek, geboren 1980 in Bytom/Polen ist Jurist und Publizist. Er hat Deutsches Recht, Rechtsvergleichung und Menschenrechte an der Pariser Sorbonne unterrichtet und ist regelmäßiger Kolumnist und Autor der NZZ. Zuletzt veröffentlichte er "Kryptopia" und "Generation Chillstand".

© Bild: Enno Kapitza
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