Premiere von "Dionysos Stadt" in München

Heldenmut und Hybris liegen nah beieinander

Ein Mann kippt Blut in eine Wanne mit zwei Personen.
Szene aus "Dionysos Stadt" mit (von links nach rechts) Wiebke Mollenhauer, Nils Kahnwald, Maja Beckmann, Majd Feddah © Kammerspiele München / Julian Baumann
Von Christoph Leibold · 06.10.2018
Ein Theaterrausch mit zehn Stunden Antike ist "Dionysos Stadt" an den Münchner Kammerspielen. Von Prometheus über den Trojanischen Krieg bis zur "Orestie" spannt sich der Bogen − eine Grenzerfahrung für Ensemble und Publikum.
Zehn Stunden Theater sind eigentlich ein Klacks im Vergleich zu den mehrtägigen Dionysien im alten Griechenland. Aber klar, den gängigen Zeitrahmen heutiger Produktionen sprengt so eine XXL- Ausführung allemal.
"Dionysos Stadt" von Christopher Rüping ist als kollektive Verausgabung von Ensemble und Publikum angelegt, die nicht nur beide Seiten an die Grenze der Belastbarkeit bringen will, sondern auch die Grenzen zwischen Bühne und Parkett zu überbrücken versucht. Mit Erfolg.
Der erste von vier Teilen endet mit einer Stage-Diving-Szene, in der Schauspieler und Schauspielerinnen sich ins Publikum fallen lassen und über die Sitzreihen hinweg durch den Zuschauerraum weitergereicht werden. Später markiert ein Teil des Publikums auf der Bühne die Hochzeitsgesellschaft, als Elektra Pylades heiratet, den Gefährten ihres Bruders Orest, der seine Mutter Klytaimnestra und deren Lover Aigisthos erschlagen hat.

Eine formale Dehnübung

Die "Orestie" inszeniert Rüping als grotesk-grausige Family-Soap, in der sich die Schauspieler und Schauspielerinnen mit Verve in ihre Rollen werfen. Der vorangehende Trojanische Krieg dagegen ist als schlagzeuggetriebenes Klanggewitter samt Spoken-Word-Performance zu erleben. Rüpings Inszenierung ist auch eine formale Dehnübung, die die Grenzen des Bühnenmöglichen in sämtlichen Richtungen auslotet. Aber auch thematisch arbeitet sich dieser Theater-Marathon an Grenzen ab.
Ein Mann liegt auf einer Matratze auf dem Boden. Dahinter ist eine große Leinwand zu sehen, auf welcher eine Frau zu sehen ist mit einem Marneladen-Toast
Majd Feddah© Kammerspiele München / Julian Baumann
Im Mittelpunkt steht der Mensch, der die Fesseln seines Schicksals abzustreifen versucht. Heldenmut und Hybris liegen da nah beieinander. Zeus sieht es voraus, als er zu Prometheus sagt, wer den Menschen das Feuer gebe, werde Krieg bekommen. Freiheit bedeutet auch: Verantwortung. Und die kann missbraucht werden.
Bei aller eklektischen Vielfalt der szenischen Ausformulierung: "Dionysos Stadt" besticht durch den zwingenden thematischen Bogen, den der Regisseur von Prometheus über Troja bis hin zur "Orestie" spannt und der den Abend über die stilistische Sprünge hinweg zusammenhält. Natürlich gibt es dabei stärkere und schwächere Momente. Aber selbst zunächst weniger überzeugende Szenen erweisen sich im Folgenden als schlüssig im Sinne des Gesamtkonzepts.
Zwei Schaupieler auf einer Bühne. Einer wird von hinten festgehalten, sitzt auf dem Boden.
Nils Kahnwald, Maja Beckmann (v.l.n.r.)© Kammerspiele München / Julian Baumann
Die Action-Painting-artige Klangmalerei der Schlacht um Troja zum Beispiel kommt musikalisch arg aufgemotzt daher, lässt die Feinzeichnung der Figuren im Anschluss dafür aber umso nachdrücklicher wirken. Der stolze Trotz, mit dem Maja Beckmann als Andromache um das Leben ihres Sohnes kämpft oder die Eindringlichkeit, mit der Gro Swantje Kohlhofs Kassandra ihre Vision eines Trojanischen Krieges im Rewind-Modus vorträgt (in der sich die gefallenen Krieger wieder vom Schlachtfeld erheben) – das sind nur zwei von etlichen darstellerischen Glanzmomenten dieses Theaterrausches.
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