Praktische Philosophie

Von Susanne Mack |
Die philosophische Skepsis ist eine Form der Lebenskunst, die in unserer auf Gewissheit versessenen Zeit in Vergessenheit geraten ist. Demgegenüber zeigt „Die Kunst des Zweifelns“ von Andreas Urs Sommer, dass das skeptische Philosophieren mit seiner Vorliebe für die Vorläufigkeit neue Freiräume des Urteilens und Handelns eröffnet.
„Zweifeln ist eine Kunst“, behauptet Andreas Urs Sommer. Das ist ungewöhnlich. Denn es scheint, als sei das Zweifeln eben keine Kunst: Zweifeln kann doch jeder, der Lust drauf hat. Ein Zweifler (oder „Skeptiker „, wie die alten Griechen sagen) ist ein Freund der Destruktion: Manuskripte zerpflücken, Standpunkte niedermachen, ein Haar in der Suppe finden: Das ist das Geschäft der Skeptiker.

Und selbst legen sie sich nicht gern fest. Ein ordentlicher Skeptiker glaubt an nichts. So ein „gepflegter Skeptizismus“ gilt unter Intellektuellen als chic und wird von Journalisten gern genommen. Motto: „Wir lassen uns doch nicht mit einem Standpunkt erwischen!“ Klar. Denn wer einen Standpunkt formuliert, ist angreifbar.

Ein „Großkritiker“ ist es nicht. Der „totale Zweifel“ ist tatsächlich keine Kunst, da braucht man keine Bildung, da gibt’s nicht viel zu lernen. Was man allenfalls braucht, ist ein Talent für ironische Formulierungen. Das war’s.

Andreas Urs Sommer hat offensichtlich eine andere Art des Zweifels im Blick: Ein skeptisches Denken, das Anleitung braucht. Tatsächlich: Dem Autor geht es um jenen Zweifel, der nicht als Ersatz für ein eigenständiges Urteil herhalten muss, sondern vielmehr die Voraussetzung dafür abgibt, dass man sich überhaupt eins bilden kann.

Da ist der Zweifel im Sinne von „Kritik " gemeint. „Kritik“ im besten philosophischen Sinn dieses Wortes. Der Autor gebraucht die Begriffe „Zweifel“, „Skepsis“ und „Kritik“ nämlich so, wie Immanuel Kant sie gebraucht hat: „Kritik“ nicht als „Dagegen – Sein“, Meckern oder Nase rümpfen, sondern als eine bestimmte philosophische Methode, mit der man einem Urteil (einer Meinung, einem Standpunkt) auf den Grund geht. Zweifeln in diesem Sinn ist der erste Schritt auf dem Weg zum Selber-Denken. Der Autor will uns – mit Kant – ermuntern: Habe den Mut, deinen eigenen Verstand zu gebrauchen. Und deine Urteilskraft zu schulen – anstatt dich von anderen „einseifen“ zu lassen – seien es Medien, Politiker oder auch nur deine Schwiegermutter.

Der Autor betätigt sich quasi als „Vorturner“ in Sachen „kritisches Denken“. Dazu hat er 33 Themen ausgewählt. Die geben 33 Kapitel ab. Die Themen sind aus dem Alltag gegriffen. Beispiel: Unterhaltungsfernsehen. RTL „exclusiv“ und „explosiv“, die Mittagstalkshows… bei so was darf sich ein gebildeter Mensch natürlich nicht erwischen lassen. Das bildungsbürgerliche Urteil in dieser Sache: Nur Dummköpfe sitzen vor der Glotze und lassen sich berieseln.

Dazu der Autor: Finden wir doch erstmal heraus, welche Voraussetzung diesem Urteil zugrunde liegt, also warum eigentlich werden Leute, die sich „berieseln“ lassen, allgemein für dumm gehalten? – Antwort: Weil „sich berieseln lassen“ als passives Verhalten gilt, und „passiv sein“ wird allgemein mit „dumm sein“ assoziiert. Weil: „Klug sein“ gleich „selbstbestimmt sein " gleich „aktiv sein“. – Aber genau diese Position, schreibt Sommer, muss ein kritischer Denker ja nicht teilen. Wer sagt denn, dass „passiv sein“ und „selbstbestimmt sein“ nicht zusammen passen? Man kann sich ja auch – ganz bewusst und selbstbestimmt – genau heute abend für’s „Berieselungs-Fernsehen“ entscheiden. Vielleicht, um rauszukriegen, mit welchen Mitteln hier Quote gemacht wird. Oder auch nur, um gut und schnell einzuschlafen. Ist das etwa kein vernünftiger Grund?

Auf diese Weise nimmt der Autor alle möglichen bildungsbürgerlichen (Vor-) Urteile unter die Lupe. Sätze wie „Geld regiert die Welt „. Oder „Reisen bildet“. Oder „Du musst so viel wie möglich lernen“. – Er klärt jedes Mal, unter welchen Voraussetzungen bestimmte Sätze gelten. Und dann ermuntert er den Leser, selbst zu entscheiden, ob er diese Voraussetzungen teilen will oder auch nicht. – Da gibt es interessante Argumentationen. Glasklar und unaufgeregt. Das ist praktische Philosophie im besten Sinn: die starke Seite dieses Buchs.

Die schwache Seite des Buches ist das Buch im Ganzen: seine Konzeption. Der Autor konnte sich leider nicht entscheiden, wen er sich als Leser wünscht und was er demzufolge liefern wollte: ein akademisches Traktat für Philosophieprofessoren oder ein gutes Stück Journaille für den philosophie-geneigten Laien.
Das Vorwort liest sich wie einer Habilitationsschrift entsprungen: randvoll mit Jahreszahlen, Fußnoten und altgriechischen Vokabeln. Und ein paar Kapitel sind leider genauso geraten. Aber es gibt eben auch ganz wunderbar leichte Texte in einem flotten Feuilleton-Stil, der Autor kann das durchaus. In Zukunft also mehr an den Leser denken. Und ein beherzter Lektor wäre auch nicht schlecht.


Andreas Urs Sommer:
Die Kunst des Zweifelns. Anleitung zum skeptischen Denken.

C. H. Beck Verlag München 2005
145 Seiten, 9.90 Euro.