Präzise Fakten, stimmige Emotion

Rezensent: Joachim Scholl |
Der kanadische Autor Yann Martel gewann 2002 den renommierten Booker Prize für den Roman "Schiffbruch mit Tiger". Im Fahrwasser des Erfolgs wird jetzt sein erstes Buch mit Erzählungen "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios" noch einmal aufgelegt. Martel erweist sich hier als stimmiger und präziser Erzähler.
"Eine Geschichte funktioniert nur dann, wenn entweder die Fakten stimmen oder wenn sie emotional stimmig ist. Wenn beides nicht zutrifft, ist die Geschichte schrecklich." Das sagt Yann Martel: kanadischer Autor, 42 Jahre alt, der 2002 über Nacht berühmt wurde, als er mit seinem Roman "Schiffbruch mit Tiger" den englischen Booker-Preis gewann und einen internationalen Bestseller landete.

Zehn Jahre zuvor wurde Martels erstes Buch veröffentlicht, "The Facts behind the Helsinki Roccamatios", ein Band mit Erzählungen, die im angelsächsischen Raum euphorisch begrüßt, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel "Aller Irrsinn dieses Seins" (im Verlag Volk & Welt) jedoch kaum beachtet wurden. Jetzt erscheinen diese vom Autor überarbeiteten Storys in neuer Übersetzung und mit einem Vorwort versehen.

Es ist inzwischen üblich, dass die Buchverlage den überraschenden Welterfolg eines Autors dazu nutzen, seine früheren Bücher neu aufzutakeln, eine Gewinn versprechende Praxis von oft fragwürdigem Wert. In Yann Martels Fall jedoch ist sie gerechtfertigt.

Die vier Storys zeigen einen jungen, originellen Erzähler, der mit Formen, Stil und Tonlagen experimentiert und dabei eine erstaunliche Kraft und Originalität an den Tag legt. Die längste Erzählung spielt in den 1980er Jahren und handelt vom langsamen Sterben des 19-jährigen Paul, der durch eine Bluttransfusion mit HIV infiziert wurde. Der Erzähler ist mit dem Todgeweihten eng befreundet und begleitet nun die quälende Reihe von kaum anschlagenden Therapien, aufflammenden Hoffnungen und tiefer Verzweiflung.

Um Paul zu unterstützen, schlägt der Erzähler vor, sich zusammen eine Geschichte, eine weit gespannte Familiensaga auszudenken, die sich über das ganze 20. Jahrhundert erstreckt: Das werden die Titel gebenden Roccamatios aus Helsinki sein! Der uralte spirituelle Ansatz "Heilung durch Erzählung" kann den Verfall nicht aufhalten. Paul wird sterben, aber während des Erzählens lebt er in einer anderen Welt.

Auch die zweite Erzählung entspricht Yann Martels Minimal-Poetik von präzisen Fakten und stimmiger Emotion: Der Erzähler erlebt ein spektakuläres Violin-Konzert von Vietnam-Veteranen in einem Abbruchhaus und folgt einem der Musiker begeistert in die Nacht, um ihn später in einer Bank als Reinigungskraft zu beobachten.

Wer Yann Martels "Schiffbruch mit Tiger" schätzt, wird diese Erzählungen ebenfalls genießen. Und vielleicht gewinnt der Autor damit auch jene vor allem deutschen Kritiker zurück, die seinem Erfolgsroman mit einigem Recht Geschwätzigkeit und philosophischen Leichtsinn vorwarfen. Die kurze Form reguliert den epischen Überschwang, sie zwingt zur Konzentration. Man hofft, bald noch mehr solcher Storys lesen zu können.

Yann Martel: Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios
Storys. Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Alllié
S.Fischer Verlag Frankfurt/M.
190 Seiten. € 19,90.