Präsidentschaftswahl in Chile

Frust im Vorzeigeland Südamerikas

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"Wir sind der Wandel" - Dreharbeiten zum Wahlspot der Bürgerbewegung "Frente Amplio" © Anne Herrberg, ARD Buenos Aires
Von Anne Herrberg · 16.11.2017
In Chile wechseln sich seit einem Jahrzehnt zwei Präsidenten ab: Michelle Bachelet und Sebastian Piñera. Jetzt also wieder Piñera? Wenn die Chilenen nicht müssten, würden sie gar nicht mehr wählen.
Drei Schritte zum Rednerpult, eine schwungvolle Unterschrift, dann hält Michelle Bachelet die dunkelblaue Akte stolz dem geladenen Publikum im Innenhof des Moneda-Palastes entgegen, sie nickt und strahlt in die Kameras und winkt in die Menge.
"Vielen Dank an alle, die uns an diesem Tag unterstützen. Darauf haben die Frauen in Chile seit langem erwartet wird. Heute unterzeichnen wir – endlich! – das Gesetz, das es Frauen erlaubt, selbst über ihren Körper und ihre Schwangerschaft zu entscheiden – in drei entscheidenden und menschlich schwierigen Fällen."
Michelle Bachelet freut sich nach ihrem Erfolg bei der letzten Präsidentschaftswahl 2013 in Chile
Michelle Bachelet freut sich nach ihrem Erfolg bei der letzten Präsidentschaftswahl 2013 in Chile© dpa picture alliance / Sebastian Silva
Bei Gefahr für das Leben des Ungeborenen, der Mutter oder nach Vergewaltigungen sind Schwangerschaftsabbrüche nun auch in Chile erlaubt. Es war ein zähes Ringen, der Widerstand von Kirche und Konservativen enorm. Doch nun, kurz vor Ende von Bachelets Amtszeit, ist die Lockerung des absoluten Abtreibungsverbotes in Kraft: Es war ein zentrales Wahlversprechen der inzwischen 66-jährigen Sozialistin, ausgebildeten Ärztin und ersten Frau an der Spitze dieses erzkonservativen Landes. Der Applaus tut ihr gut. Michelle Bachelet, die bereits von 2006 bis 2010 regiert hat, darf zwar nicht wieder antreten. Doch geht es in diesen Tagen auch um ihr politisches Erbe.

Die Sozialistin mit der schwachen Bilanz

Chile, hatte sie den Wählern zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit vor vier Jahren angekündigt, sollte nicht nur wirtschaftlich blühen, sondern auch moderner werden, weltoffener und sozial gerechter. Doch die Bilanz ist mau. Und glaubt man den Umfragen, so sind heute 70 Prozent der Chilenen unzufrieden mit ihrer Politik.
Knapp 100 Kilometer von Santiago entfernt: Wie ein riesiger eisblauer Spiegel breitet sich der Pazifik vor San Antonio aus. Am Horizont die Lastkräne des Industriehafens. Davor, am Pier, der alte Fischmarkt. Seehunde und Pelikane lümmeln sich auf den von der Sonne gewärmten Felsen.
Industrie- und Hafenstadt San Antonio - Einstige Hochburg der Linken
Industrie- und Hafenstadt San Antonio - Einstige Hochburg der Linken© Anne Herrberg, ARD Buenos Aires
"Se siente, man spürt es, Guillier wird Präsident". Wahlkampf zwischen Sardinen, Kabeljau und Krustentieren. Alejandro Guillier ist offizieller Nachfolgekandidat von Präsidentin Michelle Bachelet.
"Der Hafen von San Antonio wird zum größten Containerhafen in Zentralchile ausgebaut und besser vernetzt, das wird nicht nur den Handel in Schwung bringen, sondern auch den Tourismus und den Dienstleistungssektor."
San Antonio - In der Bucht am Pazifik soll der größte Container-Hafen Zentralchiles entstehen
San Antonio - In der Bucht am Pazifik soll der größte Container-Hafen Zentralchiles entstehen© Deutschlandradio / Anne Herrberg
Der 64-jährige Soziologe mit grau melierten Schläfen weiß, was die Wähler hier an der Küste umtreibt – der Hafenausbau ist seit 2009 geplant, gemeinsam finanziert von Staat und privaten Investoren. Doch das Megaprojekt ist ins Stocken geraten, parallel zum Wirtschaftswachstum. Es sank von den gewohnten Rekordraten von fünf Prozent auf unter zwei Prozent. Die Exporte sind eingebrochen, Investitionen ausgeblieben und die Arbeitslosigkeit ist gestiegen.
"Unser Problem ist, dass wir hauptsächlich Rohstoffexporteure sind. Unsere Wirtschaft hängt stark von den Schwankungen der Weltmarktpreise für Kupfer und anderer Exportprodukte ab. Das ist ein strukturelles Problem: Der Schlüssel liegt in der Bildung und in der Diversifizierung. Lösungen haben wir auf den Weg gebracht."
Gibt sich volksnah - Regierungskandidat Alejandro Guillier unterwegs in San Antonio
Gibt sich volksnah - Regierungskandidat Alejandro Guillier unterwegs in San Antonio © Deutschlandradio / Anne Herrberg
Es stimmt: Reformen wurden angestoßen, doch vieles ist Stückwerk geblieben. In der einstigen Hochburg der Linken glauben viele den Versprechen der Regierung nicht mehr. Auch Jonathan Varas nicht. Drei Lastwagen, fünf Angestellte und einen unbezahlten Kredit hat er, seiner kleinen Logistikfirma sind in den letzten Jahren 20 Prozent der Aufträge weggebrochen.
"Diese Regierung war nicht gut für die Wirtschaft. Ich habe eine Familie zu ernähren, muss meine Rente und die Kredite abbezahlen. Ich vertraue da mehr auf Piñera, der versteht wenigstens was vom Geschäft und weiß, wie man Investitionen und Kapital anlockt. Wir brauchen mehr Arbeit und nicht nur schönes Gerede."

Steinreicher Unternehmer als aussichtsreichster Kandidat

Zumindest hat er die besten Aussichten. Sebastian Piñera. Heute hat er die Kameras auf den Stadtberg Cerro San Cristóbal geladen, eine grüne Oase über der hektischen Hauptstadt.
"Wir befinden uns an einem sehr wichtigen Ort für Santiago. Seit Jahrhunderten hat er den Reisenden den Weg gewiesen. Die Mapuche-Ureinwohner nannten ihn Tupáhue, den Wächter-Berg."
Santiago von seiner glitzernden Seite - Aussicht vom Stadtberg Cerro San Cristóbal
Santiago von seiner glitzernden Seite - Aussicht vom Stadtberg Cerro San Cristóbal© Deutschlandradio / Anne Herrberg
Am Horizont die schneebedeckten Andengipfel, unten im Tal die Glasfronten der Geschäfts- und Restaurantviertel mit dem 300 Meter hohen Gran Torre Santiago, dem größten Wolkenkratzer Südamerikas. Eine Art Phallussymbol der chilenischen Boomjahre, für die auch Piñera steht. Nun gilt der rechtskonservative und steinreiche Unternehmer wieder als aussichtsreichster Kandidat.
"Diese Regierung hat wirtschaftlich unverantwortlich und inkompetent gearbeitet. Wir müssen wieder den Weg des Fortschritts und der Entwicklung einschlagen. Das bedeutet nicht nur wirtschaftliches Wachstum. Es bedeutet auch, als Land zusammenzustehen, dass es mehr Sicherheit gibt und wir gegen Gewalt und Kriminalität vorgehen. Es bedeutet aber auch, keinen Missbrauch zu dulden und die Schwächsten zu unterstützen."
Verspricht bessere Zeiten für Chile - Ex-Präsident Sebastian  Piñera gilt als Gewinner-Typ
Verspricht bessere Zeiten für Chile - Ex-Präsident Sebastian Piñera gilt als Gewinner-Typ© Deutschlandradio / Anne Herrberg
Piñera ist kein Ideologe, sondern eher ein pragmatischer Geschäftsmann. Den Grundstein zu seinem Vermögen legte er während der Pinochet-Diktatur – unter anderem mit der Einführung von Kreditkarten. Politisch aber ging er auf Distanz zu den Militärs, stimmte beim Referendum 1988 öffentlich gegen den Verbleib Pinochets im Amt. Piñera ist einer, der es versteht, immer auf der Gewinnerseite zu stehen – dafür bewunderten ihn viele, sagt Wirtschaftsphilosoph Eugenio Yañez
"Unser neoliberales Modell sagt uns, dass Erfolg ausschließlich wirtschaftlich messbar ist. Alles ist Wettbewerb, du musst ein "Winner" sein, das ist, was zählt. Und wenn du das Geld gerade nicht hast, dann zahlst du eben in Raten. 80 Prozent der Chilenen sind verschuldet."

In Chile regiert der Kapitalismus stärker als anderswo

In Chile regiert der Kapitalismus stärker als anderswo – auch das ist ein Erbe der Militärdiktatur Augusto Pinochets. Als er 1973 putschte, sollte nicht nur die sozialistische Regierung von Salvador Allende ausgelöscht werden, sondern auch ihre Ideen von Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit. Chile wurde zu einem Experiment des Neoliberalismus, weit über das Ende der Diktatur 1990 hinaus. Und es galt damit lange als Vorzeigeland Südamerikas: Keiner der Nachbarstaaten ist in den letzten 25 Jahren so sehr gewachsen. Doch heute sagen selbst Konservative wie der Wirtschafts-Philosoph Yañez:
"Wenn eine Metapher erlaubt ist: Für mich ist Chile wie ein schönes und bunt angestrichenes Haus. Wenn man von außen draufblickt, scheint alles perfekt. Aber drinnen sieht es ganz anders aus."
Chile ist der OECD-Staat mit der größten sozialen Ungleichheit. Heute besitzt ein Prozent mehr als ein Drittel des Reichtums des Landes. Während 14 von Hundert Chilenen unter der Armutsgrenze leben.
Wohnen unter Wellblech - Las Islas liegt fernab der glitzernden Metropole Santiago
Wohnen unter Wellblech - Las Islas liegt fernab der glitzernden Metropole Santiago© Anne Herrberg, ARD Buenos Aires
Ein klapperndes Wellblech als Dach, eine aus Paletten, Planen und alten Türen zusammengezimmerte Wand, die Straße im Sommer staubig, im Winter matschig. Das ist der Alltag von Gloria Gonzalez. Sie lebt weit weg vom glitzernden Zentrum Santiagos: in Las Islas am Stadtrand.
"Ich bin hier hergekommen, weil ich nirgendwo sonst hinkonnte. Wir lebten auf einer Parzelle, der Besitzer starb - und wir mussten gehen."
Wie rund 120.000 Menschen im 17 Millionen-Einwohnerland Chile lebt sie nun in einem Campamento, wie diese prekären Armensiedlungen genannt werden. Ohne fließendes Wasser, der Strom wird abgezwackt, der Müll selbst verbrannt. Nun leidet die 56-Jährige unter Faser-Muskel-Schmerzen – das hatte gerade noch gefehlt.
"Wenn jemand krank wird, muss man Wunder vollbringen. Eine private Sprechstunde kann ich mir nicht leisten, und im öffentlichen System halten sie dich am Leben. Mehr nicht. Die Wartezeiten sind ewig lang. Mein Vater zum Beispiel hatte Prostatakrebs, aber er ist gestorben, bevor er einen Termin beim Spezialisten bekam. Die Leute sterben im Wartezimmer, das ist eine Schande."
14 Prozent der Chilenen leben unter der Armutsgrenze - wie hier in Las Islas
14 Prozent der Chilenen leben unter der Armutsgrenze - wie hier in Las Islas© Anne Herrberg, ARD Buenos Aires
Chile ist eines der wenigen Länder weltweit, das sein Sozialversicherungssystem fast vollständig privatisiert hat: Gesundheit, Bildung und auch die Renten – alles ist ein Geschäft, daran haben auch die angestoßenen Reformen der Regierung Bachelet wenig verändert. An den horrenden Gebühren verdienen vor allem die Banken. Wer sich nicht selbst helfen könne, rutsche ab, sagt Gloria.

Kein Vertrauen mehr in die Politik

Die Politiker schaufeln sich doch ohnehin nur in die eigene Tasche, schimpft auch ihre Nachbarin Pamela Araucares.
Zuletzt wurden immer mehr Korruptionsfälle bekannt. Sechs bis acht Familienkonzerne, die die chilenische Wirtschaft quasi unter sich aufgeteilt haben, haben Politiker jeglicher Couleur geschmiert. Selbst Bachelets eigener Sohn war in einen Skandal um Vetternwirtschaft verwickelt. Gloria und Pamela schütteln den Kopf. Beide gehen nur noch wählen, weil es in Chile Pflicht ist und sie sonst eine Strafe zahlen müssten – aber das Vertrauen in die Politik haben sie längst verloren.
"In diesem Land geben die Mächtigen uns armen Familien keine Chance. Unsere Kinder sollen sich nicht weiterentwickeln, seien wir doch mal ehrlich. Weil sie Angst davor haben, dass die Armen aufsteigen. Denn sie brauchen uns doch als billige Arbeitskräfte, während sie sich einen schönen Lenz machen. Und wenn du dein Recht einforderst, dann schmeißen sie dich raus."
Gonzalo Winter hat sich Wasserwerfern, Tränengas und Polizeiknüppeln entgegengestellt – wie viele andere Studenten auch, die seit 2011 für kostenlose Bildung und ein gerechteres Sozialsystem protestieren. Gonzalo ist 30 und hat Jura studiert, auf den vierstelligen Kredit, den er aufnahm, um die umgerechnet fast 5000 Euro pro Semester zahlen zu können, gab es sechs Prozent Zinsen. Mittlerweile wurden sie auf zwei Prozent gedeckelt, doch Gonzalo bringt das nichts mehr. Er ist bis heute verschuldet – dazu kommen die monatlichen Beiträge für die private Rente.

Linke Herausforderung - Die Bürgerbewegung "Frente Amplio"

Deswegen steht Gonzalo heute mit 50 anderen Freiwilligen, mit Pauken und Trompeten vor dem Präsidentenpalast La Moneda – Dreh für einen Wahlkampfspot der "Frente Amplio", einer Bürgerbewegung, die die Regierungskoalition von links herausfordert. Gonzalo kandidiert fürs Parlament.
"Der Frente Amplio ist aus den Bürgerprotesten der letzten Dekade gegen dieses System hervorgegangen. Wir haben alle genug von der Art, wie Politik bisher betrieben wird. Es gab zwar einige Reformen, aber die einzigen, die einen grundlegenden Wandel fordern, sind wir. Wenn man gegen die Strukturen kämpfen will, dann innerhalb der Institutionen."
Parlament statt Straßenproteste - Gonzalo Winter will 'von innen heraus' etwas verändern
Parlament statt Straßenproteste - Gonzalo Winter will 'von innen heraus' etwas verändern© Deutschlandradio / Anne Herrberg
Seit Ende der Militärdiktatur stehen sich in Chile nur zwei große Parteibündnisse gegenüber. Auf der einen Seite die rechtsgerichteten Konservativen – auf der andere die Concertación, was wörtlich übersetzt "Absprache" bedeutet. Daraus wurde ab 2013 Michelle Bachelets Mitte-Links-Koalition Nueva Mayoria, die "Neue Mehrheit". Das Bündnis – in dem von Christdemokraten bis Kommunisten ein enormes Spektrum vertreten war, erwies sich jedoch als träge und ist zerstritten.
"Die Concertación und ihr Nachfolger, die Nueva Mayoria, waren das erfolgreichste politische Projekt der Demokratie. Sie haben die Stabilität garantiert, aber eben auch ein Fortbestehen der Eliten und des neoliberalen Wirtschaftsmodells der Diktatur mit Klüngel und Korruption. Damit haben sie sich immer weiter von den Bürgern entfernt, und daran scheitern sie gerade."
Frente Amplio-Kandidatin Beatriz Sánchez (r) - Hoffnungsträgerin der jungen Linken
Frente Amplio-Kandidatin Beatriz Sánchez (r) - Hoffnungsträgerin der jungen Linken© Deutschlandradio / Anne Herrberg
Viele Gründungsmitglieder der Frente Amplio gehören einer neuen Generation an, die nach dem Ende der Diktatur aufgewachsen ist. Manche vergleichen sie mit linkspopulistischen Parteien wie Podemos in Spanien – auch in dem Sinne, dass die Bewegung im Grunde eher den Rechtskonservativen in die Hände spielen könnte. Je zersplitterter das Mitte-Links-Spektrum, umso mehr Stimmen für Piñera. Der führt die Umfragen deutlich an – der Zweitplatzierte, Mitte-Links-Kandidat Guillier, hätte in einer Stichwahl nur dann eine Chance, wenn ihn die Frente Amplio unterstützen würde – doch dazu möchte sich deren Spitzenkandidatin Beatriz Sánchez noch nicht äußern.
"Die Frage ist: Wollen wir Chile verändern und endlich das Erbe der Diktatur abschütteln oder nicht. Wir sind in den letzten 20 Jahren einem Rezept gefolgt, in dem die immer gleiche Elite die Regeln festgesetzt hat – aber dagegen regt sich Protest. Das kann man nicht mit Geld regeln oder mit Gewalt unterdrücken. Die Lösung ist eine Politik, die alle mit einbezieht, in einem offenen und ehrlichen Dialog. Das fehlt in Chile."

Selbstbestimmung und Land - Der Konflikt um die Mapuche

Der markige Klang des Trutruka-Horns. Er hallt wider von den grauen Mauern des Gerichtsgebäudes von Temuco, rund 700 Kilometer südlich von Santiago in der Region Araucanía. Dann ertönt ein Kampfschrei
"Zehn Mal werden wir siegen" bedeutet das auf Mapudungun, der Sprache der Mapuche, mit über einer Million das größte indigene Volk in Chile. Mehrere Dutzend haben sich versammelt, um Machi Francisca Linconao zu unterstützen – die 60-jährige ist des Terrorismus angeklagt. Sie soll verantwortlich sein für einen Brandanschlag, bei dem ein älteres Ehepaar, die aus der Schweiz stammenden Großgrundbesitzer Luchsinger-MacKay, ums Leben kamen.
"Ich bin Machi, Heilerin und traditionelle Autorität, ich kann nicht lügen. Aber was die sagen, ist pure Lüge. Die Polizei hat Waffen in meinem Haus abgelegt, Pamphlete und Sturmmasken, sie haben einen Zeugen manipuliert. Hört auf, uns Mapuche zu misshandeln und zu manipulieren, viele Unschuldige sitzen wegen Lügen in Haft."
Machi Francisca, eine zierliche Frau mit blauem Kopftuch und Silberschmuck, ist zur Symbolfigur eines jahrhundertealten Konfliktes im Süden Chiles geworden. Seit Ende des 19.Jahrhunderts werden die Mapuche von ihrem Land verdrängt – zuerst in Reservate gepfercht, später vergab der Staat ihre Territorien an Einwanderer, vor allem an Schweizer und Deutsche, die Fortschritt in den abgelegenen Süden bringen sollten. Und seit der neoliberalen Öffnung während der Militärdiktatur drängen große Forst-, Landwirtschafts- und Energieunternehmen in die Region, die als die ärmste Chiles gilt. Doch der Widerstand wächst.
Ingrid Conejeros - Sprecherin der Machi Francisca Linconao
Ingrid Conejeros - Sprecherin der Machi Francisca Linconao© Anne Herrberg, ARD Buenos Aires
Es geht um Selbstbestimmung und um Land, erklärt Ingrid Conejeros. Sie spricht für die Machi, die sich in der spanischen Sprache nicht so gut ausdrücken kann.
"Fast unser gesamtes Territorium ist von wirtschaftlichen Großprojekten besetzt worden. Wasserkraftwerke, Eukalyptus- und Kieferplantagen für die Holzindustrie. Sie zerstören unsere natürlichen Wälder, trocknen unsere Flüsse und Quellen aus. Dagegen hat die Machi gekämpft, aber auf juristischem Wege – und sie hat Prozesse gewonnen. Damit hat sie eine Exempel statuiert, sie wurde zur Symbolfigur des Widerstandes, deswegen wird sie verfolgt. Das ist ein Krieg gegen uns, und in den Medien wird der Diskurs installiert, wir seien alle Terroristen."
Der rauchige Geruch von Verkohltem und Verbranntem hängt noch immer in der Luft.
Nur die Kirchtumspitze blieb übrig - Die Reste einer verbrannten Kirche bei Temuco
Nur die Kirchtumspitze blieb übrig - Die Reste einer verbrannten Kirche bei Temuco© Anne Herrberg, ARD Buenos Aires
An einer Eiche lehnt die einstige Kirchturmspitze, ansonsten ist von der kleinen Kapelle etwas außerhalb von Temuco nicht viel übrig geblieben – Unbekannte hätten sie eines Nachts angezündet, seien entkommen, hätten Pamphlete im Namen des Kampfes der Mapuche hinterlassen, sagt die Agrarunternehmerin Ingrid von Baer.
"Als Landwirt, ist es nicht leicht. Weil dein ganzes Geld, deine ganze Investition ist auf dem Feld und mit einem Streichholz kannst du alles verlieren und deshalb gibt es sehr viele Menschen, die Angst haben, etwas zu sagen, das ist Bedrohung, Terror funktioniert."
'Was hier passiert, ist Terrorismus' - Ingrid von Baer (l) mit Opfern von Brandanschlägen und gewaltsamen Überfällen in der Araucania
'Was hier passiert, ist Terrorismus' - Ingrid von Baer (l) mit Opfern von Brandanschlägen und gewaltsamen Überfällen in der Araucania© Deutschlandradio / Anne Herrberg
Ingrid von Baer ist Tochter einer deutschen Einwandererfamilie, der Großvater, Militär in Nazi-Deutschland, floh nach dem Krieg nach Chile. Heute ist die Familie von Baer im Besitz eines der größten Saatgutunternehmen der Region, deren Eigentum von staatlichen Sicherheitskräften geschützt wird.
"Mapuche gibt es gute, und es gibt Mapuche, die beeinflusst sind, um diese Schäden zu machen. Und was macht der Staat ? Der Staat ist nicht hier."

Die Täter bleiben auf freiem Fuß

Nach neun Monaten Untersuchungshaft werden Machi Francisca und alle weiteren Angeklagten Ende Oktober freigesprochen. Die Familie Luchsinger-Mackay spricht von fehlendem Rechtsstaat. Das Verbrechen bleibt weiter ungelöst. Die wahren Täter auf freiem Fuß.
Auch dieser Konflikt im Süden spielt im Wahlkampf eine zentrale Rolle. Präsidentin Bachelet bat die Mapuche offiziell um Verzeihung, für die Gräuel, die der Staat begangen und geduldet habe. Der rechts-konservative Sebastian Piñera forderte derweil härteres Durchgreifen und die konsequente Anwendung des Antiterrorgesetzes. Es geht noch auf die Militärdiktatur zurück, genauso wie die Verfassung, in der die Mapuche nicht als Volk anerkannt sind. Das Erbe der Vergangenheit lastet bis heute schwer auf dem Land, die Gräben, die sich durch die Gesellschaft ziehen sind tief – die Probleme vielschichtig. Chiles zukünftige Regierung steht vor der großen Herausforderung, das Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen.
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