Präsidentschaftswahl in Brasilien

Samba zwischen Klinge und Knast

Ein Demonstrant mit Teufelsmaske hält ein Plakat mit "#EleNao" in die Kamera vor einem neongrün illuminierten historischen Gebäude.
EleNão - "Ihn nicht" - Proteste gegen den rechten Präsidentschaftskandidaten Bolsonaro in Rio de Janeiro. © AFP / Mauro Pimentel
Von Ivo Marusczyk · 04.10.2018
Die Brasilianer wählen einen neuen Präsidenten. Ex-Präsident Lula sitzt im Gefängnis und rechtsaußen-Kandidat Bolsonaro lag bis vor kurzem im Krankenhaus, verletzt durch ein Attentat. Das machte ihn zum Helden. Und nun auch zum Sieger?
Der aussichtsreichste Kandidat wird mitten in der Kampagne verhaftet, versucht aber stur, aus der Zelle weiter die Strippen zu ziehen. Der neue Favorit wird niedergestochen und führt den Wahlkampf vom Krankenbett aus. Kandidaten in der Mitte des politischen Spektrums gäbe es auch, aber sie gehen zwischen diesen beiden Polen chancenlos unter.
Besucher des "Lasst Lula frei"-Konzerts in Rio. Ein Unterstützer des inhaftierten Expräsidenten hält ein Schild mit dem Schriftzug"Lula Livre" hoch.
"Lasst Lula frei" – Plakate bei einem Konzert in Rio.© picture alliance/dpa/AP/Correa
Pfiffe und wütende Parolen. So hat dieser verrückte Wahlkampf begonnen. Der alternde Kämpfer hatte noch einmal zum Angriff geblasen. Lula da Silva will es noch einmal wissen, will noch einmal für seine Arbeiterpartei in den Präsidenten-Palast von Brasilia einziehen. Doch seine Wahlkampf-Karawane durch den Süden Brasiliens läuft nicht wie geplant. Im Gegenteil. Eier, Flaschen und Steine fliegen, als der Tross Ende März die Stadt Chapecó erreicht. Anhänger des rechtsextremen Kandidaten Jair Bolsonaro versuchen, den Auftritt des Ex-Präsidenten, der zu diesem Zeitpunkt noch auf freiem Fuß ist, zu verhindern - sie schießen sogar mit Leuchtraketen auf die Lula-Anhänger und rufen "Lula, Verbrecher, Du gehörst ins Gefängnis."
Aus dem erhofften Triumphzug für Lula da Silva wird ein Spießrutenlauf. Die Wut über die Attacken steht ihm ins Gesicht geschrieben.
"Das Schlimmste ist: Wenn die Typen da schon mal Hunger gelitten hätten, würden sie nicht mit Eiern werfen, sondern sie essen. Ein Omelett statt die Leute anzugreifen."
Brasilien im Wahlkampf – Eine Wahl ohne Lula ist Betrug.
Brasilien im Wahlkampf – Eine Wahl ohne Lula ist Betrug.© Ivo Marusczyk, ARD Buenos Aires
Palast oder Knast – im April scheint noch beides möglich. Lula da Silva ist zwar in zweiter Instanz wegen Korruption und Geldwäsche zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, aber noch nicht in Haft – und in allen Umfragen führt er mit weitem Vorsprung. Es scheint, als hätten die Urteile ihn erst recht angestachelt.
"Ich bin 72 Jahre alt, aber ich habe die Energie eines 30jährigen, und ich bin so scharf drauf wie ein 20jähriger. Die anderen wissen genau: Wenn ich antrete, werde ich im ersten Wahlgang gewinnen. Und sie wissen, dass ich dann dieses Land aus dem Dreck ziehen werde."

"Wenn ich antrete, werde ich gewinnen"

Dafür feiern seine Anhänger ihn frenetisch – für sie verkörpert Lula da Silva immer noch die goldenen Jahre, als Brasilien boomte und Lulas Sozialprogramme Millionen aus der Armut holten. Die Justiz, die ihr Idol verurteilt hat, halten sie für willfährig und machtgierig. Erst wurde die linke Dilma Rousseff mit fadenscheinigen Vorwänden aus dem Präsidentenamt geputscht, jetzt versucht die Justiz, den populären Ex-Präsidenten auszuschalten – so beschreiben Lulas Anhänger die politische Lage in Brasilien.
Das Urteil ist tatsächlich schwach begründet, der Ex-Präsident wurde in einem Indizienprozess ohne harte Beweise verurteilt. Doch schon hier, beim Wahlkampf-Auftakt im Süden, hätte allen klar sein müssen: Die eigentliche Gefahr kommt aus einer anderen Richtung – von rechts außen. In Gestalt des Ex-Fallschirmjägers Bolsonaro, dessen Anhänger gegen Lula mobil gemacht haben. "Unsere Fahne wird niemals rot sein", rufen sie in Chapecó.
"Wer mag schon Schwule", "Ich bin für Folter", "Wer verliebt sich schon in eine schwarze Frau" – Jair Bolsonaro will Brasiliens Präsident werden. Und hat Chancen.
"Wer mag schon Schwule", "Ich bin für Folter", "Wer verliebt sich schon in eine schwarze Frau" – Jair Bolsonaro will Brasiliens Präsident werden. Und hat Chancen. © picture alliance/dpa/Dario Oliveira
Jair Messias Bolsonaro sitzt seit 30 Jahren im Kongress, tritt aber jetzt als Kämpfer gegen das Establishment und die politische Klasse in Brasília auf. Aufgefallen ist der Hinterbänkler in all den Jahren eigentlich nur durch Ausfälle gegen Frauen, gegen Schwarze und gegen Schwule. Und dadurch dass er die Folterknechte der Militärdiktatur lobte

"Veränderung gibt es nur durch Bürgerkrieg"

"Wer mag schon Schwule, keiner mag sie, die Leute ertragen sie halt."
"Ich bin für Folter."
"Mit Abstimmungen wird sich in diesem Land nichts ändern. Gar nichts. Veränderung gibt es nur, wenn wir einen Bürgerkrieg anfangen."
Gewagte Vergleiche – Protest gegen Jair Bolsonaro vor der brasilianischen Wahl am 7. Oktober.
Gewagte Vergleiche – Protest gegen Jair Bolsonaro vor der brasilianischen Wahl am 7. Oktober.© imago/Agencia EFE
Berühmt ist auch sein Zitat, keiner seiner Söhne werde sich in eine schwarze Frau verlieben, denn sie seien ja gut erzogen. Einer Parlamentskollegin rief er zu, sie sei zu hässlich, um sie zu vergewaltigen. Und bei der Amtsenthebung von Dilma Rousseff rief er "Für Oberst Ustra", den Offizier, der die Politikerin seinerzeit foltern ließ.
September, Frühling auf der Südhalbkugel: Der Wahlkampf ist in die entscheidende Phase eingetreten. Lula das Silva sitzt mittlerweile in Haft, aber die PT, die Arbeiterpartei, hält immer noch an ihm fest. Die Avenida Paulista, die Prachtstraße durch São Paulo, ist sonntags für Autos gesperrt. Das machen sich Radfahrer und Straßenkünstler zu Nutze –und natürlich auch die Wahlkämpfer.

Die Bolsonaro-Anhänger sind die Lautesten

São Paulo ist Brasiliens Wirtschaftsmetropole und trotz der jüngsten Krise noch immer eine pulsierende, glitzernde und kosmopolitische Stadt. Aber auch hier geben die Bolsonaro-Anhänger den Ton an –zumindest sind sie auf der Avenida Paulista die größte und die lauteste Gruppe. Sie haben eine riesige Gummipuppe ihres Kandidaten aufgeblasen, die allerdings eher wie eine Angst einflößende Karikatur Bolsonaros wirkt.
Er ist der Größte – Anhänger von Jair Bolsonaro demonstrieren am 30. September auf der Avenida Paulista in São Paulo.
Er ist der Größte – Anhänger von Jair Bolsonaro demonstrieren am 30. September auf der Avenida Paulista in São Paulo.© imago stock&people
"Brasilien über alles" ist einer ihrer Slogans.
"Er ist der einzige anständige Politiker. Er ist der Einzige der gegen diese Gender-Politik ist und für neutrale Schulen, für Moral und Ethik in diesem Land."
"Die Linie von Bolsonaro hat uns immer gefallen. Eine starke Linie, die das Konservative schützen will, verbunden mit streng konservativen Familienwerten."
"In erster Linie ist er gegen Abtreibung und gegen Drogen, und er nimmt die Polizei in Schutz, die immer schlecht gemacht wird. Er ist Patriot - und genau das fehlt heute in Brasilien. Die Liebe zu Brasilien wurde ausgelöscht, als die Linke an die Macht kam. Wer sich Patriot nennt, wird ja noch ausgelacht."

Bolsonaros Lieblingsgeste: der imaginäre Revolver

Immerhin – sie reden mit der Presse. Sehr gern zeigen die Anhänger des Rechtsaußen dabei dessen Lieblingsgeste: Daumen und Zeigefinger abgespreizt zu einem imaginären Revolver. Die weitgehende Freigabe von Schusswaffen ist eine der wenigen konkreten Forderungen, auf die man Bolsonaro festlegen kann. Eine Forderung, die Sicherheits-Fachleuten große Sorgen bereitet.
"Die Zuspitzung der Sicherheitslage darf nicht zu scheinbar einfachen Lösungen verführen. Es gibt Forderungen, die Polizei solle Verbrecher einfach abschießen dürfen. Man solle Polizisten nicht mehr bestrafen, wenn sie getötet haben, oder man solle einfach Waffen verteilen – da können wir uns gut vorstellen, wohin das führt. Es gab schon Beispiele in Brasilien dafür, dass solche Rezepte nicht funktionieren."
Sagt Bruno Langeani von der Stiftung "Sou da Paz" – zu Deutsch "ich bin für Frieden", die mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien Konfliktforschung betreibt. Aber solche Argumente beeindrucken Bolsonaros Anhänger nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Sie fühlen sich durch die jüngsten Ereignisse bestätigt.

Viel Sendezeit nach Attentat

Bei einem Wahlkampfauftritt im Osten Brasiliens stürzt ein Mann auf Jair Bolsonaro zu und rammt ihm ein Messer in den Bauch. Dünndarm und Dickdarm werden perforiert, eine Notoperation rettet dem Politiker das Leben. Das Attentat bremst ihn aber nicht, sondern gibt ihm weiter Auftrieb. Noch aus der Intensivstation twittert er, Magensonde noch in der Nase, schon wieder Fotos mit der Revolver-Geste. Bolsonaro hat keine Verbündeten, deswegen steht ihm nach den brasilianischen Gesetzen kaum Sendezeit für Wahlspots in Radio und Fernsehen zu. Aber seit dem Attentat berichten die brasilianischen Nachrichtensender fast rund um die Uhr über ihn.
Bolsonaro eingeliefert – Medienrummel vor dem Albert-Einstein-Krankenhaus in São Paulo.
Bolsonaro eingeliefert – Medienrummel vor dem Albert-Einstein-Krankenhaus in São Paulo.© Ivo Marusczyk, ARD Buenos Aires
Jede Darmtätigkeit des Kandidaten ist eine Eilmeldung wert. Mit großem Ernst wird tatsächlich über den Stuhlgang des Schwerverletzten berichtet. Die Genesung verläuft nicht ohne Komplikationen, wahrscheinlich kann Jair Bolsonaro vor der ersten Runde der Wahl gar keine öffentlichen Auftritte mehr absolvieren. Doch selbst das kommt ihm zu Gute. In Debatten sah er ziemlich schlecht aus. Marina Silva, Kandidatin des links-grünen Bündnisses Rede Sustentabilidade, führte ihn in der ersten TV-Debatte regelrecht vor. Jetzt agiert Jair Bolsonaro aus der Rolle des Opfers heraus. Gelegentliche Tweets aus dem Krankenhaus genügen dem Politiker, um seine Anhänger bei der Stange zu halten. Und er genießt alle Aufmerksamkeit, ohne inhaltlich Stellung nehmen zu müssen. Marco Aurelio Nogueira ist Politikwissenschaftler an der Universität von Sao Paulo:
"Das Attentat hilft ihm, weil die Brasilianer sentimental sind. Wir sind solidarisch, wenn jemand leidet. Politisch gesprochen: Das Attentat hat Bolsonaro genau das gegeben, was er nicht hatte: Sichtbarkeit. Er hatte 15 Sekunden Sendezeit pro Tag im Fernsehen, jetzt hat er zehn Stunden. Alle TV-Sendungen, alle Nachrichtenprogramme, reden ununterbrochen über ihn."

Die Linke ist gespalten

Nur ein paar Schritte neben der aufblasbaren Bolsonaro-Puppe auf der Avenida Paulista haben sich ein paar Anhänger von Ciro Gomes versammelt. Ciro Gomes tritt für die sozialdemokratische PDT an. Sie müsste die natürliche Verbündete von Lulas Arbeiterpartei sein – doch wie so oft ist die Linke auch in Brasilien tief gespalten. Gomes hat sich mit der Arbeiterpartei überworfen, er lehnt das sture Festhalten am verurteilten Kandidaten Lula ab. Die beiden Mitte-Links-Kandidaten konkurrieren um die gleichen Wählerschichten – und damit besteht die Gefahr, dass ein anderer Kandidat als lachender Dritter in die Stichwahl einzieht.
Auch in der Arbeiterpartei war die Taktik, möglichst lang an Lula festzuhalten, umstritten. Aber letztlich kam niemand am Wort des Ex-Präsidenten vorbei - und der machte die Kandidatur zu einer Frage der persönlichen Ehre. Dabei hatte Lula selbst als Präsident das "ficha limpa"-Gesetz verkündet, nach dem Straftäter nicht bei Wahlen antreten dürfen, sobald sie in zweiter Instanz verurteilt sind. Trotzdem beharrte er darauf, selbst für die Arbeiterpartei in den Wahlkampf zu ziehen. Damit hatte sein Vize-Kandidat Fernando Haddad oder ein anderer Bewerber keine Chance, einen eigenen Wahlkampf zu gestalten. Ihnen fehlt es schon am Bekanntheitsgrad.

Lulas Vize fehlt der Stallgeruch

Es passt ins Bild, dass ausgerechnet die Arbeiterpartei an diesem Sonntag auf der Avenida Paulista gar nicht präsent ist. Die stolze Partei steckt noch in der Selbstfindung, muss erst herausfinden, mit wem sie eigentlich in den Wahlkampf ziehen soll. Denn das Oberste Wahlgericht hat Lulas Ambitionen endgültig einen Riegel vorgeschoben. Lulas Bewerbung sei ungültig, die PT müsse einen Ersatzmann aufstellen.

In einem Brief an das brasilianische Volk hat Lula seine Anhänger aufgefordert, statt für ihn jetzt für seinen Vize Fernando Haddad zu stimmen. Im allerletzten Moment: Nur eine Stunde später wäre eine Frist des Obersten Wahlgerichts abgelaufen, die Arbeiterpartei wäre ohne Kandidat dagestanden. Deswegen hebt sie doch noch Lulas Vize auf den Schild. Ein riskantes Manöver. Fernando Haddad ist Politik-Professor. Ihm fehlen der Stallgeruch des Arbeiterführers und das Charisma des Volkstribuns völlig. Er kann nur als Ersatzmann für Lula auftreten. Für Haddad reicht die Zeit nicht mehr, sein Profil zu schärfen oder ein eigenes politisches Konzept zu erarbeiten. Haddad war Bürgermeister von Sao Paulo und Bildungsminister unter Lula – aber das reicht nicht, um in ganz Brasilien bekannt zu werden.
Ersatzmann der Arbeiterpartei – Fernando Haddad, Ex-Bürgermeister von São Paulo, Ex-Bildungsminister unter Lula.
Ersatzmann der Arbeiterpartei – Fernando Haddad, Ex-Bürgermeister von São Paulo, Ex-Bildungsminister unter Lula.© imago stock&people
"Ihr fühlt den gleichen Schmerz wie ich. Aber es ist nicht die Zeit, um mit hängendem Kopf nach Hause zu gehen. Jetzt müssen wir ihr erhobenen Hauptes auf die Straße gehen und die Wahl gewinnen."

Denkt an die guten Zeiten unter Lula!

Haddad kann nur darauf bauen, dass möglichst viele Wähler Lulas Fingerzeig folgen und sich nicht enttäuscht abwenden. Sein Wahlkampf besteht daraus, die guten alten Zeiten unter Lula zu beschwören.
"Der Präsident hat uns allen eine Aufgabe gegeben. Die Aufgabe, den Menschen in die Augen zu schauen und sie an die guten Tage zu erinnern, die wir zusammen erlebt haben."
Knappe zwei Stunden außerhalb von São Paulo macht die Beton- und Asphaltwüste Platz für sanfte Hügel und weite Felder. Nur die Schaumfetzen auf dem Tietê-Fluss erinnern noch daran, wie nah die Riesenmetropole São Paulo ist. Die Stadt Itu bereitet sich auf das Spektakel des Jahres vor."

Freigabe von Waffen – Bolsonaros gute Idee

Eiskalter Wind treibt Staubwirbel durch die Arena: Rodeo ist in Brasilien enorm beliebt – aber der Kampf mit dem Stier ist nichts für alte Männer, sondern ein Riesen-Event für die Jugend aus der ländlichen Gegend. Deswegen brüllt auch keine Country-Musik aus den Boxen, sondern Latino-Pop. Cowboystiefel und Stetson-Hüte gehören dennoch dazu.
In Brasilien beliebt – Rodeo, hier in Itu, zwei Stunden entfernt von São Paulo.
In Brasilien beliebt – Rodeo, hier in Itu, zwei Stunden entfernt von São Paulo.© Ivo Marusczyk, ARD Buenos Aires
Auch bei der jungen Landbevölkerung ist die Politik gerade ein großes Thema. Und hier bekennen sich fast alle als Fans von Jair Bolsonaro. Vor allem seine Forderung nach einer Freigabe von Schusswaffen kommt hier gut an.
"Vielleicht wäre die Freigabe von Waffen eine Lösung. In einem Land ohne Gesetze, wo man nicht von der Polizei beschützt wird, da muss man das Recht letztlich wohl in die eigenen Hände nehmen."
"Ich hätte auch gern eine Waffe. Ich bin zweimal überfallen worden, sie haben mein Auto gestohlen - und ich konnte nichts machen. Es soll lieber der Angreifer draufgehen als ich. Ich habe so viel für mein Auto gearbeitet - und dann kommt er, mit der Waffe in der Hand, und nimmt es mir weg. Hätte ich eine Waffe gehabt, hätte ich auf ihn geschossen. Da hätte ich kein Mitleid."

Die Kriminalität ist sehr hoch

Kriminalität ist überall in Brasilien ein enormes Problem. Seit den Großereignissen, seit Fußball-WM und Olympischen Spielen in Rio, hat sich die Bandenkriminalität wieder ausgebreitet. In den Städten sind wilde Schießereien an der Tagesordnung: Drogenbanden gegen andere Banden oder gegen die Polizei. Und auf dem Land haben viele Menschen das Gefühl, der Staat könne sie nicht mehr vor Überfällen schützen. Die Stadt Itu müsste eigentlich die Hochburg von Geraldo Alckmin sein. Der langjährige Gouverneur des Bundestaats São Paulo tritt für die Mitte-Rechts-Partei PSDB an, eine der staatstragenden Parteien Brasiliens, die hier immer abgeräumt hat. Und Alckmin kann sogar eine gute Bilanz vorweisen, in São Paulo funktionieren Verwaltung und Gesundheitswesen viel besser als im Rest des Landes.
"Das Land braucht wieder Investitionen, damit es mehr Arbeitsplätze und höhere Einkommen gibt. Das ist die Herausforderung. Nur mit Vertrauen werden wir Investitionen anziehen."
Aber der Anästhesist Alckmin versprüht das Charisma eines "Picolé de Chuchu", eines Kürbis-Eises, wie die einflussreiche Zeitung "Folha de São Paulo" lästert. Und noch schlimmer: Er ist schon sehr lange in der Politik und steht damit ebenfalls für das alte System, das Brasilien unter anderem den Lava-Jato-Korruptionsskandal eingebracht hat. Den riesigen Korruptionsskandal, in dem Milliarden-Schmiergelder zwischen dem Ölkonzern Petrobras, dem Bauriesen Odebrecht und Politikern aller Parteien flossen. Die Parteien, die Brasilien jahrzehntelang geprägt haben, sind dadurch völlig desavouiert. Und so stagniert der erfolgreiche Gouverneur in den Umfragen unter zehn Prozent – immerhin noch weit vor Henrique Meirelles, dem Kandidaten der MDB, der Partei des amtierenden Präsidenten Michel Temer.
"Ich glaube nicht, dass Alckmin hier viele Stimmen holt. Selbst die Beamten sind alle auf ihn sauer, und die Arbeiter fühlen sich von ihm verraten. Er war 16 Jahre lang Gouverneur - und die Bevölkerung ist es leid, in der Politik immer dieselben Gesichter zu sehen. Ich hoffe, dass er nicht weiter an der Macht bleibt, es ist Zeit für etwas Neues. Brasilien hat keine andere Möglichkeit als die Erneuerung. Schluss damit, dass immer dieselben kommen."

Werden die Zweiten die Ersten sein?

Brasilien ist immer für Überraschungen gut. Aber die wahrscheinlichste Prognose ist, dass der Zweitplatzierte aus dem ersten Wahlgang neuer Präsident wird. Bolsonaro ist zwar der Sieg im ersten Wahlgang kaum noch zu nehmen, doch dann dürften sich im zweiten Wahlgang viele hinter seinem Gegenkandidaten sammeln, egal aus welchem Lager der kommt. So könnte Lulas riskantes Spiel letztlich doch noch aufgehen. In jedem Fall reiht sich Brasilien in die Reihe der Länder ein, in denen Politiker, die auf die Demokratie schimpfen, Wahlen gewinnen können. Oder, wie einer der Wahlkämpfer auf der Avenida Paulista es ausdrückt.
"In der ganzen Welt gibt es eine konservative Welle. Das sieht man an Trump und jetzt auch in Brasilien. Bolsonaro kommt ins Spiel, weil die Menschen müde sind. Er hat eine einfache Antwort für sie. Alles wird mit Kugeln geregelt. Leider ist Brasilien ein Land, in dem die Mehrheit nicht der Justiz und den Politikern vertraut. Und das aus gutem Grund."
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