Präsidentenberater und theologischer Querdenker - Jim Wallis

Von Andreas Malessa |
Der erste Evangelische Kirchentag nach dem Ende der Bush-Ära präsentierte einen Berater von US-Präsident Barrak Obama, den man hierzulande wohl als "Evangelikalen" bezeichnen würde. Er liest in der Bibel, geht in seine Gemeinde, er betet und er predigt. Aber weil er sich, auch hierzulande, als notorischer Atomwaffengegner, Friedensaktivist und Kämpfer gegen soziale Ungerechtigkeit einen Namen gemacht hat, passt der Mann in kein deutsches Konfessions-Klischee: Jim Wallis aus Washington.
"Ich kenne Barrack Obama seit etwa zehn Jahren, schon aus seinen Senatorzeiten. Jetzt bin ich Mitglied eines Beraterstabes, den er für konzeptionelle und ethische Fragen in der Innen- und Außenpolitik eingerichtet hat. Wir haben Telefonkonferenzen, treffen uns mit seinem Team, mailen viel hin und her."

Als Schüler demonstrierte er gegen die Rassentrennung, als Theologiestudent gegen den Vietnamkrieg, als Gründungspastor der sogenannten "Sojourners"-Gemeinschaft in Washington schrieb er 1981 das Haus- und Handbuch für Christen in der Friedensbewegung : "Bekehrung zum Leben. Nachfolge im Atomzeitalter".
Jetzt ist Jim Wallis 61, seine Frau ist die erste anglikanische Priesterin und sein Freund der erste schwarze Präsident der USA geworden. Der Mann darf zufrieden sein. Aber - was unterscheidet einen "geistlichen Berater" von einem x-beliebigen Lobbyisten der Kirche ?

"Gleich nach seiner Wahl formierten wir einen runden Tisch unabhängiger Religionsführer. Als Obama sagte: 'Um Großes zu vollbringen, brauche ich den Rückenwind einer Bewegung', da sagte ich: 'Und manchmal brauchst Du auch ihren Gegenwind. Der bremst ja nicht nur, der pustet Dir auch den Weg frei." Die prophetische Integrität der Kirchen muss erhalten bleiben, keine Partei und kein Präsident soll glauben, er hätte uns in der Tasche. Wir stellen die harten Fragen."

Mit "prophetischer Integrität” meint Jim Wallis die Fähigkeit und den Auftrag der Christen, ihre Regierungen mit den Forderungen des Evangeliums zu konfrontieren.

"Soziale Veränderungen werden weniger denn je von der Macht innerhalb einer Regierung kommen, sondern vom Druck der Gesellschaft außen. Es gibt eine völlig neue Choreografie des Kräftespiels. Früher habe ich den Protest der biblischen Propheten Jesaja, Jeremia und Amos gepredigt und bin dafür 22 Mal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden. Neuerdings predige ich Josef, Daniel und Nehemia - planvolle Reformer und Neu-Erbauer waren das. Denn wir stecken doch nicht wegen ein paar kriminellen Kreditgebern in der Krise, sondern weil die unsichtbare Hand von Adam Smith, dem Marktwirtschaftstheoretiker, unsere moralischen Werte zerknüllt und das Gemeinwohl fallengelassen hat!"

Jim Wallis ist Gastdozent für politische Ethik an der Harvard-Universität und wird zu jährlich rund 200 Vorträgen eingeladen. Einen hielt er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Als der TV-Sender CNN ihn fragte, wann die Rezession wohl zu Ende sei, sagte er:

"Ich sagte: Die Frage muss vielmehr lauten: Wie wird die Krise uns verändern? Wenn wir sie überstehen und alles bleibt beim alten, dann waren alle Leiden und Verluste umsonst. Nein, der Schreck und der Verlustschmerz sollten unsere Herzen, unsere Haltungen, unsere Werte, unsere Entscheidungen und Pläne, unsere Prioritäten, unsere Art, Erfolg zu messen und das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern verändern - all das gehört auf den Prüfstand."

Change. Das magische Wort. Aber, mit Verlaub: Erwartet Jim Wallis diese Veränderungen wirklich von jener US-Christenheit, die sich in acht Jahren Bush-Ära in einen theologischen und politischen Grabenkrieg polarisiert hat?

"Ich bin kein Utopist. Auch Obama nicht. Es stimmt: Amerika hatte sich eingegraben und Ihr im Rest der Welt habt das schneller erkannt als wir. Trotzdem: Die Masse aller Gläubigen, gleich welcher Religion, kann und wird im Erneuerungsprozess eine kritische und positive Rolle spielen. Ich bin für die Trennung von Kirche und Staat. Aber ich bin gegen die Trennung von moralischen Werten und öffentlichem Leben. Ja, wir respektieren die Vielfalt. Es gibt in den USA mehr Muslime als Presbyterianer. Der Respekt und die Verpflichtung zum Wiederaufbau erstreckt sich übrigens auch auf Atheisten und die vielen Menschen, die zwar spirituell, aber nicht religiös sein wollen."
Ganz klar: Jim Wallis wird daheim von den Konservativen als zu liberal und von den Liberalen als zu konservativ abgelehnt. Vier Monate lang stand sein Buch "Die Seele der Politik" auf der Bestsellerliste der New York Times. Und was ist seiner Meinung nach die Seele der Politik?

Zwei Sorten Hunger hat die Welt: Den nach Spiritualität und den nach sozialer Gerechtigkeit. Die Verbindung dieser zwei erhoffen sich vor allem junge Menschen.