Prähistorische Giganten

Gerald Mayr im Gespräch mit Joachim Scholl · 05.05.2010
Zu ihrer Zeit waren sie wahre Könige der Lüfte: Riesenvögel mit so klingenden Namen wie "Argentavis magnificens" und "Dasornis" mit Flügelspannweiten bis zu sieben Metern. Der Vogelpaläontologe Gerald Mayr hat sich ausgiebig mit den längst ausgestorbenen Riesenvögeln beschäftigt.
Joachim Scholl: Sie haben klingende Namen: "Argentavis magnificens" und "Dasornis" – und sie waren in prähistorischer Zeit wahre Könige der Lüfte: Vögel, so groß wie heutzutage kleine Flugzeuge mit bis zu sieben Metern Spannweite. Längst sind sie ausgestorben, aber natürlich ein faszinierender Gegenstand für die Forschung. Gerald Mayr ist solch ein Wissenschaftler, Vogelpaläontologe am Senckenbergmuseum in Frankfurt am Main und jetzt im Studio. Guten Morgen, Herr Mayr!

Gerald Mayr: Guten Morgen!

Scholl: Argentavis magnificens und Dasornis – Herr Mayr, was waren das für Vögel, wie sahen die aus?

Mayr: Das waren zwei Vögel, die zu zwei völlig verschiedenen Vogelgruppen gehören: Argentavis war ein Vertreter der Greifvögel, der in etwa aussah, also, man stellt sich vor, dass er aussah wie ein heutiger Neuweltgeier, wie ein Condor zum Beispiel – bloß natürlich viel, viel größer, also, er erreichte Flügelspannweiten zwischen sechs und acht Metern –, während Dasornis zu einer Gruppe gehört, die Pseudozahn-Vögel heißt, die sahen eher aus wie Albatrosse mit sehr langen, schmalen Flügeln und hatten zahnartige Vorsprünge an den Kieferrändern.

Scholl: Sie haben das herausgefunden, Herr Mayr, mit dem Dasornis und seinen Zähnen. Wie haben Sie das herausgefunden?

Mayr: Ich habe das nicht herausgefunden mit dem Dasornis und seinen Zähnen. Die Vögel, die waren schon länger bekannt. Ich habe nur den bisher besterhaltenen Schädel von Dasornis beschrieben, und der ist ziemlich groß, sodass man ausgehen kann, dass dieser Vogel wahrscheinlich eine Flügelspannweite von vier bis fünf Metern hatte, aber es gab noch wesentlich größere Vertreter dieser Vogelgruppe, den Pseudozahn-Vögeln, die knapp sechs oder sieben Meter Flügelspannweite hatten.

Scholl: Vögel mit Zähnen, das klingt so ein bisschen schauerlich. Waren das Raubvögel?

Mayr: Das waren Vögel, die sich von Fischen ernährt haben, die mit offenem Schnabel wahrscheinlich über der Wasseroberfläche entlanggeflogen sind und die Fische oder Tintenfische sind an diesen zahnartigen Vorsprüngen hängengeblieben. Also, es waren keine richtigen Zähne, sondern eher so Auswüchse des Kieferrandes aus Knochen, während richtige Zähne ja in so Zahnhöhlen sitzen.

Scholl: Dass wir mal eine zeitliche Vorstellung haben, Herr Mayr – wann haben diese Vögel eigentlich gelebt?

Mayr: Also, Argentavis, der ist aus einer Fundstelle in Argentinien bekannt und die sind vor ungefähr sechs Millionen Jahren abgelagert worden. Dasornis ist wesentlich älter, knapp 50 Millionen Jahre alt, aber die Gruppe, zu der Dasornis gehörte, diese Pseudozahn-Vögel, die sind erst vor ziemlich kurzer Zeit, vor zwei Millionen Jahren, ausgestorben.

Scholl: Nun ist es ja eine majestätische Vorstellung, solch einen Riesenvogel mit ausgebreiteten Schwingen am Himmel schweben zu sehen. Also, wenn man heute aber zum Beispiel die Albatrosse beschaut, die auch bis zu drei Metern Spannweite haben: Wenn die starten und landen, dann sieht es ungeheuer drollig, weil sehr ungelenk aus. Wie war das denn bei diesen Riesen in der Vorzeit mit ihren Flugeigenschaften, weiß man das?

Mayr: Also, man kann es natürlich bloß spekulieren, und bei Argentavis insbesondere ist das Problem, dass nach allem, was man weiß, dass dieser Vogel ziemlich schwer war. Der war wahrscheinlich 60, 70 Kilo schwer, was ungefähr ein Vierfaches des schwersten heutigen Vogels ist, und da dürften vor allem gerade Start und Landung Probleme bereitet haben. Und es wird angenommen, dass der nicht aus dem Stand starten konnte, sondern abschüssige Flächen brauchte, wo er dann erst runterlaufen musste, wie es auch einige heutige Albatrosse machen.

Scholl: Das heißt also, dass er sozusagen aus eigener Kraft gar nicht vom Boden hochkam?

Mayr: Genau, dass er entweder starke Gegenwinde, die gegen den Flügel geblasen haben, oder eben abschüssige Flächen, sodass er dadurch Geschwindigkeit erreichen konnte ... Das Wichtige ist, dass so ein Vogel beim Start eben die entsprechende Geschwindigkeit hat, um abheben zu können.

Scholl: Warum waren oder warum wurden diese Vögel überhaupt so groß? Gab es da evolutionäre Vorteile?

Mayr: Die spannende Frage ist vielleicht eher, warum es heute nicht mehr so große Vögel gibt. Und eine Vermutung ist, dass Argentavis ... Der lebte in Südamerika und das war damals von anderen Kontinenten isoliert, das heißt, es gab damals noch keine Raubsäugetiere – das ist eigentlich das Hauptproblem von großen Vögeln heute, die lange Zeit auf ihren Eiern sitzen, die Eier bebrüten und dann natürlich sehr anfällig sind, nicht nur gegen große Raubsäugetiere, aber auch zum Beispiel gegen Ratten oder andere Raubvögel –, dass dieses Fehlen von Raubsäugetieren in diesen Gebieten vielleicht dazu geführt hat, dass diese großen Vögel überhaupt so groß werden konnten.

Scholl: Vögel so groß wie kleine Flugzeuge, das ist das Forschungsgebiet des Vogelpaläontologen Gerald Mayr, er ist bei uns hier im Deutschlandradio Kultur zu Gast. Riesenvögel sind stets in der Mythologie der Menschheit präsent gewesen, Herr Mayr. Da gab es zum Beispiel den Vogel Rock, der sich von Elefanten genährt haben soll. Haben solche Mythen eigentlich ein Fundament in der Realität?

Mayr: Also, bei dem Vogel Rock hat es wahrscheinlich tatsächlich ein Fundament, und zwar: Zum einen gibt es auf Madagaskar ... gab es einen großen, ausgestorbenen Vogel, den Elefantenvogel, der hat riesige Eier gelegt. Das war so ein Verwandter der Straußenvögel, der konnte nicht fliegen. Aber die Eier, die waren drei Mal so groß wie Straußeneier und die sind von arabischen Seefahrern vermutlich auch gefunden worden, sodass es eine Grundlage dieses Mythos war. Und dann gab es auf Mittelmeerinseln sehr, sehr kleine Elefanten, Zwergelefanten, von denen auch Skelette im Senckenbergmuseum stehen, die gerade mal Schäferhundgröße hatten. Und das in Kombination könnte natürlich zu dem Mythos geführt haben.

Scholl: Wie findet man so was eigentlich raus, allein durch Fossilienfunde?

Mayr: So was findet man nur durch Fossilienfunde raus. Also, man findet die entsprechenden Knochen, teilweise ganze Skelette, von diesen Pseudozahn-Vögeln gibt es inzwischen ganze Skelette, sodass man sehr gut Bescheid weiß, wie groß diese Vögel waren und wie die tatsächlich ausgesehen haben.

Scholl: Haben diese Riesenvögel, Herr Mayr, eigentlich etwas mit den Dinosauriern zu tun? Ich meine, es gab ja auch Flugsaurier. Waren das nicht auch Vögel?

Mayr: Also, Flugsaurier haben überhaupt nichts mit Vögeln zu tun. Die gehören zu einer ganz eigenen Gruppe, die außerhalb von Vögeln und Sauriern und Krokodilen steht. Aber Vögel, also, alle heutigen Vögel sind direkte Nachfahren der Dinosaurier, also nicht nur diese riesigen Vögel, sondern auch kleine Vögel wie Kolibris oder Spatzen und Amseln.

Scholl: Vögel sind Nachfahren der Dinosaurier?

Mayr: Genau. Also, Vögel sind quasi eine Teilgruppe der Saurier, die sind aus einer Gruppe kleiner Raubsaurier entstanden. Das ist inzwischen allgemein akzeptierter Standard.

Scholl: Wir machen hier alle doch ein wenig betretene Mienen, weil das ist, glaube ich, dieser Zusammenhang ist uns nicht so kenntlich gewesen, Herr Mayr.

Mayr: Ja, würde man, wenn man heutige Spatzen ansieht, auch nicht unbedingt denken. Aber es gab neben diesen Dinosauriern nicht nur die ganz großen Formen, sondern da gab es auch unzählige, sehr kleine Formen. Und Vögel sind natürlich von kleinen Sauriern ursprünglich entstanden, jetzt nicht von dem großen Tyrannosaurus.

Scholl: Staunend vernimmt es der anbetroffene Laie. Noch einmal zurück zu Argentavis magnificens und Dasornis, Herr Mayr: Warum sind sie eigentlich ausgestorben?

Mayr: Argentavis ist vermutlich ausgestorben, nachdem ... also, man weiß nicht genau, wann der ausgestorben ist, aber ein Grund könnte eben die Einwanderung von Säugetieren in Südamerika gewesen sein, großer Raubsäugetiere, oder eben auch kleine Raubsäugetiere, die die Eier oder Jungen gefressen haben. Bei den Pseudozahn-Vögeln ist es rätselhafter, weil die haben über 50 Millionen Jahre existiert und sind erst vor relativ kurzer Zeit ausgestorben. Was da die Gründe sein können, bleibt völlig offen.

Scholl: Wie wird man denn eigentlich Vogelpaläontolge, Gerald Mayr? Ich könnte mir vorstellen, dass man ... Also, wenn man Ornithologe ist und sich sehr für das Federvieh interessiert, die Vögel, so wie sie leben und zwitschern und fliegen, ist es doch ein etwas trockenes Brot, immer nur den Vogel so im Stein zu erforschen, oder nicht?

Mayr: Das kann man auch umgekehrt sehen, dass gerade eben, weil es bei diesen fossilen Vögeln so viele bizarre Formen gab, dass das eigentlich ... Also, manche dieser fossilen Vögel sind weitaus spannender als alles, was es heute gibt. Ich bin Paläontologe geworden über den Umweg der Ornithologie, also, ich bin eigentlich Leiter der ornithologischen Sammlung und beschäftige mich auch mit heute lebenden Vögeln.

Scholl: Wahre Giganten der Lüfte – in unserer Themenwoche zu den Vögeln hatten wir es heute mit den ganz Großen von früher. Ich danke Ihnen, Gerald Mayr vom Senckenbergmuseum Frankfurt am Main, für dieses Gespräch!

Mayr: Ich danke Ihnen auch!