Postheroismus

Wenn Helden nicht mehr nötig sind

PHILIPPINES, Manila :Comic-Fans haben sich als ihre Helden verkleidet.
Comic-Fans haben sich als ihre Helden verkleidet. © AFP PHOTO / Jay DIRECTO
Von Markus Metz und Georg Seeßlen · 22.10.2014
Heroische Werte sind in westlichen Gesellschaften nicht mehr en vogue. Was aber passiert, wenn die Figur des Helden nur noch als Superman oder Harry Potter anrückt? Über Helden und eine Gesellschaft, die scheinbar keine Heroen mehr braucht.
"Unglücklich das Land, das keine Helden hat ... Nein.
Unglücklich das Land, das Helden nötig hat."
(Bertold Brecht)
In der Zeit der großen Unübersichtlichkeit scheint Brechts schöner Satz seine humanistische Zuverlässigkeit weitgehend eingebüßt zu haben. Es wimmelt von Ländern, die mit ihren möglichen Helden nichts anfangen können, es wimmelt von Ländern, die Helden vielleicht nötig hätten, aber einfach keine hervorbringen. Und wenn Helden schon einmal am richtigen Ort zur richtigen Zeit auftauchen, dann nur, um sofort von den medialen Bildermaschinen verschlungen oder propagandistisch missbraucht zu werden.
"Ein Held, der nicht stirbt, ist ein unzuverlässiger Held. Nur tote Helden sind echte Helden."
(Jean-Pierre Melville, Filmemacher)
Ein neues Schlagwort macht die Runde. Nach der Postmoderne und der postindustriellen Produktion landen wir demnach über Postkommunismus und Postdemokratie direkt in der postheroischen Gesellschaft. Wir sind uns zwar grundsätzlich einig, dass sich das Verhältnis der westlichen Gesellschaften zum Helden wandelt. Diese Gesellschaften schaffen das Heroische nach und nach ab – aus politischen, ökonomischen, kulturellen und psychologischen Gründen. Nicht so einig ist man sich bei der Frage, ob das nun etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist.
Ein Held verkündet die Wahrheit
Von der Befürchtung zur Hoffnung und zurück. Der militärische Aspekt des Postheroismus
Helden erscheinen, sagt man, wo die Gefahr am größten ist. Held ist der Mensch, der das Kind aus den Flammen rettet. Der gegen die ungerechte Herrschaft des Tyrannen aufsteht. Der in der Schlacht die wankende Linie wieder zum Angriff führt. Der in einer Welt der Lüge die Wahrheit verkündet. Der durch seinen Märtyrertod zum Vorbild und zur Verpflichtung wird. Symbolische Ordnungen brauchen Helden. Die Nation. Die Religion. Die Idee. Die Revolution. Die Bewegung. Alle diese symbolischen Ordnungen scheinen stets so gut oder so schlecht wie die Bereitschaft, sie heldenhaft zu verteidigen oder zu verbreiten. Kein Wunder, dass die Vorstellung vom "Postheroischen" zunächst nicht aus einer Hoffnung auf eine glückliche, demokratische und friedliche Gesellschaft entsteht, sondern aus der Angst vor der eigenen Schwäche. Ralph Rotte, Professor für Politikwissenschaft an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen:
"Der Begriff Postheroismus kommt aus der Literatur über Militärstrategie und -geschichte, den gibt es seit Mitte der 90er-Jahre, er wurde dann von politischen Theoretikern und Soziologen aufgegriffen und transferiert in einen allgemeinen politikwissenschaftlichen Kontext. Die Grundidee des Postheroismus ist schon ziemlich alt, die gab es schon im 19. Jahrhundert, als sich konservative Politiker und Militärs Sorgen gemacht hatten über die Wehrfähigkeit oder Kriegstüchtigkeit westlicher Gesellschaften."
Zivile demokratische Gesellschaften tendieren dazu, sich von heroischen Werten wie "Ehre" oder "Opferbereitschaft" zu distanzieren, weil das Kriegerische nicht mehr im Zentrum des Selbstverständnisses steht. Gewiss will man sich verteidigen können gegen feindliche Übergriffe, dazu schätzt man entweder den "Staatsbürger in Uniform" oder den Berufssoldaten. Wie die Armee eines demokratischen Landes eigentlich weniger Krieg führen als vielmehr den Frieden erhalten sollte, so wäre der einzelne Soldat wohl am besten, wenn er, statt sich zu opfern, alles daran setzt, Opfer zu vermeiden.
"Dass der Postheroismus eine Entmilitarisierung bedeutet, bin ich mir fast sicher. Obwohl man auch da sagen muss, dass das Militär ja mit zu den innovativsten Bereichen der Einführung von Postheroismen gehört hat."
Sagt Dirk Baecker, Soziologe und Professor für Kulturtheorie an der Zeppelin University Friedrichshafen.
"Es ist kein Zufall, dass das bundesdeutsche Wirtschaftswunder nach dem Zweitem Weltkrieg (Stichwort Harzburger Modell) im wesentlichen nach Führungsmodellen der alten Wehrmacht funktioniert, nämlich nach Führungsmodellen, in denen immer schon klar war, dass die Kameraden an der Front untereinander die wesentlichen Informationen haben und dass man natürlich sie von der Etappe her, von oben her, unterstützen muss; dass aber Krieg im wesentlichen vorne, draußen, also interaktiv in der Auseinandersetzung mit dem Gegner, der damals noch sichtbar war, geführt wird und nicht etwa nach dem Muster einer Strategie, die zentral gestrickt wäre. Das kann man sogar für den Blitzkrieg so beschreiben, der noch die zentralistischste Form der Kriegsführung damals war. Also wäre mir da nicht sicher, ob man da nicht auch wieder das Phänomen hat, dass die Helden gepriesen werden müssen, damit man Symbole hat, um auszuhalten, was an Dreck, Gefahr, Tod, Verletzung und Schmerz usw. an der Front tatsächlich passiert. Der Held ist immer so eine Art Beruhigungsdroge für alle anderen, die ja nicht auch Helden sein können."
Das Bekenntnis zum Postheroismus ist ja nicht zuletzt der Erinnerung an die furchtbaren Folgen heroischer Gesellschaften und heroischer Gemeinschaften zu verdanken. Wir erinnern uns an die schreckliche Bilanz der Kriege des letzten Jahrhunderts.
Demokratien brauchen keine gewalttätigen Helden
Demokratie oder Demographie. Der politische Aspekt des Postheroismus.
"Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen."
(Franca Magnani, Journalistin)
Eine demokratische Gesellschaft – jedenfalls eine, wie wir sie uns vorstellen – hat schon deswegen weniger Bedarf an Helden, weil sie darauf ausgerichtet ist, Konflikte anders zu regeln als durch Gewalt. Überdies können Helden auch gefährlich werden, wenn sie ihren Ruhm missbrauchen oder wenn sie zu Instrumenten und Komplizen der Tyrannei werden. Und schließlich ist der Held in der Demokratie ein Widerspruch, weil er zwar im Zweifelsfall für die anderen kämpft, leidet und möglicherweise stirbt, aber sich gerade darin so drastisch von allen anderen unterscheidet, dass der Held gar nicht Teil der Idee von Gleichheit und Gerechtigkeit sein kann. So gibt es womöglich Helden, die sich für die Ideen der Demokratie opfern, aber wenn die Demokratie sich erfüllen sollte, dann ist kein Platz mehr für sie. Neben der demokratischen Erklärung für den Postheroismus gibt es auch eine demographische. Politikwissenschaftler Ralph Rotte:
"Da gibt es Überlegungen, die eher in eine demographische, sozioökonomische Richtung deuten, das heißt mit einer Verringerung der Kinderzahl in westlichen Gesellschaften wird jedes Kind, jedes Mitglied der Gesellschaft umso wertvoller, ökonomisch ausgedrückt. Das würde dazu führen, dass man letztlich aufgrund des besonderen Werts jedes einzelnen Individuums auf Krieg oder Opfer verzichtet."
Wenn es wahr ist, dass alles Heroische mit dem Opfer von Leib und Leben verbunden ist, dann besteht in einer humanistischen Demokratie eine Übereinkunft darüber, dass jedes einzelne Leben zu wertvoll ist, um es zu opfern. Dieser Gedanke lässt sich aber auch umdrehen. Und dann hieße das: Die kapitalistische Demokratie ist es nicht wert, auch nur ein einziges individuelles Leben dafür zu opfern. Ganz neutral kann man beide etwas pathetisch klingende Behauptungen zusammenführen: Das Verhältnis zwischen kapitalistischer Demokratie und individuellem Subjekt ist nicht heroisch.
Gegen das versteinerte Heldentum der Patriarchen
Von Konsumenten, Märkten und postheroischem Management. Der ökonomische Aspekt des Postheroismus.
In den Jahren nach 1968 rebellierte die Jugend gegen die alte hierarchische Ordnung und einen versteinerten Heroismus der Patriarchen. Diesem setzte sie einen eigenen Heroismus der sozialen Bewegung entgegen, der Kampfesmut und Opferbereitschaft sehr wohl kannte. Doch wie den Hedonismus der sexuellen Revolution haben sich auch die Konzepte von antihierarchischer Führung, kollektiver Intelligenz und eben postheroischem Management eher die ökonomischen Gewinner angeeignet.
Soziologe Dirk Baecker: "Das postheroische Management war ein Begriff, den Charles Handy in den 80er-Jahren ins Spiel brachte, und den habe ich verwendet als Verlegenheits-Titel für eine Glossensammlung. Es geht darum, eine Beobachtung festzuhalten, die ab den 60er-Jahren in der Unternehmenswelt sehr prominent geworden ist: Unternehmen können nicht mehr von der Spitze her geführt werden – oben sagt man, wo es lang geht und unten arbeitet man mit –, sondern Unternehmen führen sich selbst aus der Mitte heraus oder noch präziser gesagt, sie führen sich vom Markt her, also von außen her. Das bedeutet, dass die heroische Geste von einst – der Mann oder die Frau an der Spitze wissen, wo es lang geht, und man hat dann entweder Erfolg oder Misserfolg, Helden sind ja Leute, die auch Misserfolge mit Anstand und Würde auszuhalten vermögen – überflüssig wird und man stattdessen postheroisch arbeitet, d.h. interaktiv, partizipativ, negativ und positiv rückgekoppelt in einem intensive Austauschprozess innerhalb des Unternehmens selbst."
Im Schauspiel einer postheroischen Ökonomie werden nicht nur Entscheidungen auf viele Köpfe verteilt und, wenn man so will, demokratischer gefällt – das Geschehen wird auch noch unsichtbarer und unkontrollierbarer. Mit den Helden verschwinden auch die Schurken.
Ralph Rotte: "Da ist die Vorstellung, dass nicht mehr ein Unternehmer oder Vorstand ein Unternehmen führt, sondern dass mehr oder weniger alle mitwirken, flache Hierarchien, dass natürlich letztlich auch alle am Erfolg beteiligt sind. Dahinter steht aber nicht nur eine Aufwertung des Einzelnen, sondern auch die Frage: Ich gebe die Verantwortung ab in Richtung aller, die beteiligt sind, dadurch ist sie nicht zuweisungsfähig, wenn es nicht funktioniert. Abgesehen davon, dass man sich immer noch in der Marktwirtschaft befindet und da gibt es eben Sieger und Verlierer. Allein die Vorstellung von Sieger und Verlierer widerspricht einer postheroischen Auffassung eigentlich fundamental, d.h. Sie müssen also eigentlich auch das Modell ändern in Richtung vielleicht eines allgemeinen Genossenschaftswesens. Sozialismus würde auch nicht funktionieren, weil die Ideologie zu krass oder zu stark vorgegeben ist. Es ist also sehr schwierig, auf der Basis eine funktionsfähige Gemeinschaft oder ein funktionsfähiges politisches System aufzubauen."
Postheroisches Management entspricht einer schönen bunten Warenwelt, in der Konsumrausch und Power-Shoppen, Medien-Junkies und Zu-Tode-Amüsierer möglich sind, nur keine Helden. Der postheroische Konsument hat sogar vergessen, wie schwer er oder jemand anders dafür gearbeitet hat, damit man sich die teure Wegwerfware leisten kann. Und dass man in den Mainstream-Medien nur noch zum Helden werden kann, indem man sich zum Affen macht.
"In der Zukunft wird jeder weltberühmt sein – für 15 Minuten."
(Andy Warhol)
Die westlichen Gesellschaften ließen sich das Heroische abkaufen – für Konsum und Bequemlichkeit. Doch was wird aus einer postheroischen Gesellschaft, der der Wohlstand abhanden kommt? Eine Gesellschaft, der es nicht gut geht, die sich nicht mehr wachsen, sondern schrumpfen sieht, die in sich ungerecht, unfriedlich und hoffnungsarm geworden ist, wird sich auf Dauer so wenig Postheroismus leisten können wie eine Gesellschaft, die sich von außen bedroht fühlt. Weniger durch andere Staaten als durch Terroristen, subversive Unterwanderungen, unkontrollierbare Migrationsströme. Wie sich in den letzten Jahren herausgestellt hat, ist Postheroismus im Gegensatz zum Panzer kein gewinnbringendes Exportgut.
Ein Held zu sein ist sexy - und männlich?
Die postheroische Persönlichkeit. Der psychologische Aspekt des Postheroismus
Ein Held zu sein mag Ruhm und Selbstwertgefühl bringen, mag sexy und vorbildlich sein. Manchem ist das Heroische vielleicht auch in die Wiege gelegt, vielleicht gibt es ja ein Helden-Gen. Aus dem Alltag wissen wir, dass es Situationen gibt, die aus dem unscheinbarsten Menschen das Heroische herauszuholen vermögen. Das Heroische gibt tolle Bilder und großartige Erzählungen ab. Besonders vernünftig aber ist es nicht.
"Ein echter Held ist nur ein Besoffener oder ein Idiot."
(Helmut Schmidt, Ex-Bundeskanzler)
Heroische Individuen und heroische Gemeinschaften waren in unseren Gesellschaften lange Zeit vor allem männlich besetzt. Genauer gesagt war Heroismus immer auch so etwas wie ein Männlichkeitsbeweis. Wer sich weigerte, den Helden zu spielen, galt entsprechend als unmännlich. Mittlerweile gibt es nur noch wenige der alten heroischen Männerbünde; jede erdenkliche Heldenrolle ist, im Kino wie in der Wirklichkeit, auch schon weiblich besetzt worden. Ist auch diese Auflösung der Gleichung von Heldentum und Männlichkeit ein Element des Postheroismus?
Dirk Baecker: "Der Gender-Diskurs spielt eine ambivalente Rolle: Frauen sind sicherlich diejenigen, die am besten wissen, warum das Bild eines postheroischen Managements oder eines postheroischen Diskurses oder einer postheroischen Gesellschaft zu pflegen ist, welche Vorteile daraus entstehen werden, postheroisch miteinander umzugehen und nicht heroisch. Frauen sind die, die im Interaktionsgeschick Männern überlegen sind, die eben nicht in Ungeduld verfallen, wenn irgendwas sich nicht gleich in der nächsten Minute wieder in Richtung Lösung bewegt. Aber gleichzeitig sind Frauen auch emanzipationsbewegte Wesen, von daher gibt es eine erkennbare Lust daran, nun auch einmal die eine oder andere sei es auch nur narrative Heldin aufzubauen, um den Männern zu zeigen, das können wir auch: ob Claudia Roth oder Renate Künast, Angela Merkel oder Maggie Thatcher. Sicherlich sind das Frauen, die mit hoher Kunstfertigkeit Erwartungen des heldischen Verhaltens auffangen und diese mit noch größerer Kunstfertigkeit wie Angela Merkel auch wieder in Luft sich auflösen lassen. Es gibt auch da so eine bestimmte Intelligenz und Geschicklichkeit, mit der Melancholie des Heroischen zu spielen, aber dann mit Macht und Kraft, mit Lust und Gewinn die Intelligenz des Postheroischen voranzutreiben."
Es gibt eine Gesellschaft, die sich nicht mehr durch den Heroismus versteht, sondern durch Zivilcourage, also das demokratisch vermittelte Gefühl, gemeinsame Werte zu bewahren und dabei auch Bedrohungen und Verführungen standzuhalten. Offene, demokratische und zivile Gesellschaften sind gleichsam von Natur aus weniger heroisch geprägt. Daraus entstehen natürlich neue Probleme. Denn der Postheroismus wird in sehr verschiedenen Diskursen und auf drei sehr unterschiedlichen Ebenen verhandelt:
Ralph Rotte: "Wenn Sie von drei Ebenen ausgehen – individuelle Ebene, eine heroische oder postheroische gemeinschaftliche und die gesamtgesellschaftliche Ebene –, dann kann man sagen, dass die individuelle und die gesamtgesellschaftliche Ebene einigermaßen synchron laufen. Wenn Sie sagen, dass Werte und Überzeugungen des Individuums tendenziell immer wichtiger werden, da gibt es möglicherweise auch Bezüge zu anderen sozialen Entwicklungen, das würde ganz gut zusammenpassen. Auf der anderen Seite wenn es gerade bei Militär oder Polizei noch eine professionelle Notwendigkeit von Heroismus gibt, dann haben wir die Gefahr, dass sich eine solche Gruppierung mehr oder weniger vom Mainstream der Gesellschaft abkoppelt. Da wäre auch ein Problem, siehe in Deutschland die Ablösung der Wehrpflicht und Professionalisierung der Streitkräfte, dass das das Militär noch weiter von der Gesellschaft entfernt als bisher schon."
Zudem unterscheiden sich in diesem Punkt die westlichen Gesellschaften deutlich.
Ralph Rotte: "In den USA etwa gehört zum gesellschaftlichen Kitt eine heroische Symbolik wie die Fahne oder der tägliche Schwur auf Fahne in Schule, etwas was eine ethnisch homogenere Gesellschaft vielleicht nicht mehr braucht. Der wichtigste Punkt ist vielleicht die konkrete Bedrohungssituation: Die Bedrohungssituation ist in Europa im Augenblick nicht unmittelbar vorhanden, wir fühlen uns ziemlich sicher. Anders nehmen das die USA wahr, auch die Briten oder die Israelis. Deshalb ist die ganze postheroische Entwicklung vielleicht keine wirklich gesamtgesellschaftlich evolutive Entwicklung, sondern ein Ausdruck eines gewissen augenblicklichen Luxus: dass man keine konkrete Bedrohung hat, also kann man sich einen entsprechenden Verzicht auf 'heroischen Klimbim' leisten."
Oder man kann sich als Individuum den Luxus leisten, einen Impuls zum Heroismus in ungefährliches Freizeitverhalten auszulagern. So gibt es auf der einen Seite ein gewaltiges Reich der fiktiven Helden, im Kino, in den Computerspielen, in den Fantasy-Epen. Nirgends werden so viele Heldenbilder produziert und konsumiert wie der so genannten postheroischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite entsteht ein realer, aber inhaltsleerer Heroismus, der von der sportiven Leistung, einen achttausender Berg ohne Sauerstoffmaske zu besteigen, bis zum Ekelspiel im Fernseh-Dschungelcamp reicht. Und dazwischen stehen die Sport- und Pophelden, die das ursprünglich heroische Opfer etwa in Form toxischer Selbstzerstörung vollziehen wie Amy Winehouse.
Die Beziehung der Menschen zu ihren Helden ist auch eine durchaus lustvolle, eine zugleich heilige und erotische Beziehung. Vielleicht hat ja eine Gesellschaft, die keine Helden braucht, Glück gehabt, vielleicht fehlt jedem Menschen, der keine Helden hat, irgendetwas. Etwas, für das er im Postheroismus nicht einmal mehr verlässliche Begriffe und verlässliche Bilder findet. So entsteht möglicherweise inmitten der postheroischen Gesellschaft eine ganz neue Form des Zorns. Ein Zorn, dem vielleicht jene kalten Gewalttaten entspringen, denen wir so ratlos gegenüber stehen: Attentate, Amokläufe, Serienmorde. Weil eine postheroische Gesellschaft nicht automatisch eine gewaltfreiere Gesellschaft ist, erscheint Gewalt, in den Fiktionen wie in der Realität, immer ziel- und regelloser. Eben davon sind unsere populären Mythen, in Comics, Filmen und TV-Serien, geradezu besessen: Was ist, wenn die Helden verschwunden sind, die Schurken aber nicht?
Neonazis und Komasäufer sind die falschen Helden
Eine Welt ohne Verantwortung? Der philosophische Aspekt des Postheroismus.
Die Kritik am Konzept der postheroischen Gesellschaft konzentriert sich im Wesentlichen auf drei Argumente:
Erstens: Eine egalitäre, postheroische Gesellschaft wird auf Dauer ineffektiv und verfällt womöglich in eine Art Lähmung, wenn sie nicht mehr den mitreißenden, beispielgebenden, opferbereiten – eben heroischen – Gestus des entscheidenden und verantwortlichen Einzelnen zulässt.
Ralph Rotte: "Ich glaube schon, dass der Postheroismus durchaus Gefahr läuft, aufgrund des Abbaus von Hierarchien und der allgemeinen Gleichwertigkeit aller Beteiligten, die auch der Funktion von politischen oder wirtschaftlichen Führungskräften widerspricht, das das letztlich bedeuten kann, dass die Entscheidungsträger ihre Verantwortung abwälzen. Da gibt es runde Tische, Expertenkommissionen, im Zweifel sagen sie, ich mache direkte Demokratie, das ist immer praktisch. Das ist legitim, aber die Frage ist, ob es eine fundamental komplexe Gesellschaft wirklich widerspiegelt, wo irgendwann Entscheidungen getroffen werden müssen und eine gewisse nötige Expertise der Führungskräfte möglicherweise verloren geht. In dem Sinne ist das vielleicht sympathisch, weil es urdemokratische Forderungen stärker erfüllt, andererseits ist es ein völlig neues System, das erstmal Antworten und Mechanismen finden muss, wie man auf komplexe Herausforderungen und Krisensituationen antwortet. Eine solche Massendemokratie (ohne negative Konnotation) hat das zentrale Problem, dass man nie weiß, wer wie wann wo entscheidet. Im postmodernen Kontext kann jeder seine Überzeugungen wechseln, wie er will, entsprechend ist die Frage: Wie verlässlich und wie langfristig orientiert ist also eine solche Ordnung und wer steht letztlich dafür gerade?"
Zweitens läuft die postheroische Gesellschaft Gefahr, von den heroischen Gesellschaften oder Gemeinschaften um sie herum angegriffen zu werden. Oder heroische und postheroische Ökonomien – sagen wir China versus Europa – treten im globalen Wettbewerb gegeneinander an. Und möglicherweise "gewinnen" eben jene Gesellschaften, die ihre Bevölkerung und ihre Führung zu mehr Heroismus anfeuern.
Und drittens gerät eine postheroische Gesellschaft in Gefahr, an ihren inneren Widersprüchen zu zerbrechen. Denn ein heroisch disponiertes Individuum, dem der eigene Staat, die eigene Kultur kein Heldenbild zur Verfügung stellt, sucht sich ein anderes. Sind nicht jugendliche Gewalttäter, Neonazis und School Shooter, Komasäufer und Drogentote Beispiele für eine Jugend, die nur noch die falschen Helden findet?
Die postheroische Gesellschaft ist beides zugleich: eine Utopie, der Traum von einer Gesellschaft, in der Zivilcourage, Solidarität, Pazifismus und die Kulturtechnik der Selbstironie zu äußerem Frieden und innerer Balance führt. Und ein Alptraum, von einer Gesellschaft feiger Egoisten, ironischer Chamäleons, die nirgends Verantwortung übernehmen wollen und obendrein den Angriff anderer, heroischer Kulturen und Religionen geradezu herausfordern.

Vielleicht aber sind die modernen oder postmodernen, die demokratischen oder postdemokratischen Gesellschaften schon viel klüger, als ihre Kritiker von der heroischen wie von der postheroischen Seite meinen. Vielleicht sind sie schon in der Lage, die heroischen wie die postheroischen Impulse in der Bevölkerung nach Bedarf abzurufen, womöglich sogar entsprechend zu manipulieren. Dirk Baecker:
Dirk Baecker: "Ich kenne nur Gesellschaften, die zwischen den beiden Zuständen des Heroischen, nämlich der meist übermäßig riskanten Reaktion auf Krisen einerseits, und dann dem postheroischen Alltag hin- und heroszillieren. Und die verblüffenderweise über eine Art Hebel verfügen, um zwischen dem heroischen und dem postheroischen Zustand zu switchen. Man kennt das aus vielen Hierarchien, wo in Momenten der Krise eben doch das Wort von oben zählt und alle anderen wissen, wir überleben diese Krise nur, wenn wir uns jetzt zusammenreißen und doch mal alle an einem Strang ziehen. Aber dann wird irgendwann die Krise für beendet erklärt und alles fällt wieder in einen Normalzustand des Auseinanderlaufens und des nur gelegentlichen Miteinander-Arbeitens zurück. Das ist so ähnlich wie mit bestimmten Pilzen, Schleimpilzen, die auch sich nur aus Bakterien bilden können, wenn die Bakterien lange genug einzeln bestimmte Flächen abgegrast haben und da keine Nahrung mehr zu finden ist. Dann schließen sie sich Bakterien zu einem Pilz zusammen, wandern ein paar Meter und fallen dann wieder auseinander und fangen wieder an zu grasen. So ähnlich hin- und her-switchend zwischen zwei verschiedenen Zuständen stelle ich mir auch Gesellschaften vor."
Dann stellt sich freilich die Frage, ob eine Gesellschaft, die zwischen dem Heroischen und dem Postheroischen hin und her zu switchen versteht, dabei auch immer alle ihre Bürgerinnen und Bürger, alle Gemeinschaften und Subkulturen mitnehmen kann. Könnte es am Ende nicht sein, dass ein abgehobenes postheroisches Management die heroische Drecksarbeit anderen überlässt? Wäre der Postheroismus eine tragfähige, philosophische und moralische Idee und kein politisch-ökonomisches Steuerungsmittel, dann müsste er sich an seinen Zielen messen lassen. Postheroismus wäre also nicht deswegen gut, weil die Wirtschaft dann noch besser funktioniert, sondern die Idee wäre gut, wenn sie die Welt etwas friedlicher, gerechter und ökologischer machen würde. Zweifel daran sind angebracht.
Die Utopie einer postheroischen Gesellschaft, die sich neue Werte wie Zivilcourage, Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung zum Maßstab gemacht hätte, wäre am Ende nur zu verwirklichen, wenn sie mehr als das Denken des Einzelnen, der Gemeinschaft und der Gesellschaft erfassen würde. Nämlich den Menschen als Gattung. Besonders gut stehen die Chancen dafür indes nicht. Aber es gibt Hoffnung.
"Jeder Held wird auf die Dauer langweilig."
(Ralph Waldo Emerson, Philosoph)