Postfaktisch

Die Politik der Gefühle

Ein leeres Rednerpult mit Trumps Namensschild an der University of Illinois
Das Rednerpult an der University of Illinois blieb leer. © Tannen Maury, dpa picture-alliance
Von Peter Widmann · 10.10.2016
Eine neue Vokabel ist in Mode gekommen: "postfaktisch". Das Wort charakterisiert eine von Tatsachen befreite, auf das Gefühl zielende Rhetorik. Politikwissenschaftler Peter Widmann denkt über den Begriff nach und erläutert, was sich diesem Trend entgegensetzen ließe.
Der Appell an das Gefühl ist so alt wie die Massenpolitik und keineswegs nur eine Spezialität der Populisten. Dass Politik auch von Gefühlen lebt und Gefühle weckt, ist nicht schon an sich gefährlich. Gefährlich sind Gefühle, die gesellschaftliche Spaltungen vertiefen. Vielleicht bräuchten die verschieden Gesellschaftsgruppen Übersetzungsdienste, um wieder miteinander sprechen zu können.
Vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus im vergangenen September plädierte der Spitzenkandidat der Alternative für Deutschland dafür, bei der Beurteilung der Kriminalität nicht nur die Statistik zu betrachten. Es gehe darum, was der Bürger fühlt.
Auch in anderen Ländern erkennen Journalisten und Wissenschaftler die Tendenz, an den Affekt zu appellieren und die Komplexität der Wirklichkeit zu leugnen. Als "post-truth politics" beschreiben sie in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien Phänomene wie Donald Trumps Wahlkampf oder die Brexit-Kampagne. Tatsächlich kann man über den republikanischen Präsidentschaftskandidaten und die britischen EU-Gegner manches sagen, aber bestimmt nicht, dass sie sich in ihren Reden auf belegbare Zahlen und Zusammenhänge konzentrieren.

Gefühle gehören seit jeher zur Politik

Sind Fakten irrelevant geworden? Zählt nur noch gefühlte Wirklichkeit? Oder ist der Eindruck, dass die Politik ins postfaktische Zeitalter eintritt, auch nur ein Gefühl?
Eine Antwort fällt auch deswegen schwer, weil Gefühle seit jeher zur Politik gehören. Die Arbeiterbewegung etwa war keine Seminarveranstaltung, sie lebte auch von Emotionen, von der Empörung über die Lebensverhältnisse des städtischen Proletariats.
Die Angst vor dem Krieg war ein Antrieb der Friedensbewegung, das Misstrauen gegen eine Technologie Hauptmotiv der Kernkraftgegner. Demokratien brauchen Gefühle, etwa das Vertrauen in ihre Institutionen. Gesellschaften müssen ein Mindestmaß an Zusammengehörigkeit empfinden, sonst würden die Bürger Steuer- und Sozialversicherungssysteme kaum akzeptieren.
Der Appell an das Gefühl ist so alt wie die Massenpolitik und keineswegs nur eine Spezialität der Populisten. Dass Politik auch von Gefühlen lebt und Gefühle weckt, ist nicht schon an sich gefährlich. Gefährlich sind Gefühle, die gesellschaftliche Spaltungen vertiefen.
Das Wecken solcher Gefühle fällt Rechtspopulisten deshalb so leicht, weil sie vor allem Identitätspolitik betreiben. "Wir" und "die Anderen" sind die Kernkategorien ihrer Politik. Ihre Parolen – "Wir sind das Volk", "Lügenpresse", "Islamisierung" - reflektieren die Grundelemente vieler Gruppenkonflikte: Sie idealisieren die Wir-Gruppe und dämonisieren "die Anderen".

Die Temperatur der Auseinandersetzungen ist hoch

Wo es um Identität geht, geht es ans Eingemachte, an das menschliche Grundbedürfnis, als Einzelner und als Mitglied einer Gemeinschaft etwas wert zu sein und auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Darum ist die Temperatur der Auseinandersetzungen hoch. Darum dominiert das Gefühl über die Fakten.
Identitätspolitik findet ihren fruchtbarsten Boden in einer bereits gespaltenen Gesellschaft, der ein Mindestkonsens und gemeinsame Bezüge abhandengekommen sind. Die Gewinner der Globalisierung und des gesellschaftlichen Wandels der vergangenen Jahrzehnte bleiben so unter sich wie die Verlierer. In dem Maß, in dem sich Teile der Gesellschaft voneinander abschotten, driften die Wirklichkeiten auseinander. Die Post-Fakten-Politik ist die Politik der desintegrierten Gesellschaft.
Vielleicht bräuchten die verschieden Gesellschaftsgruppen Übersetzungsdienste, um wieder miteinander sprechen zu können. Das Führungspersonal der Populisten wird man damit kaum erreichen, wohl aber die Schwankenden unter ihren Anhängern.
Einen der Übersetzungsdienste könnte die Sozialwissenschaft stellen, besonders dort, wo sie hinausginge über Statistiken und quantitative Studien auf der einen Seite und Diskursanalysen auf der anderen. Nötig wären mehr Nahbeobachtungen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen, ihres Lebens vor Ort, ihrer Erfahrungen und Wahrnehmungen im Detail. Aus der Mühe solcher Feldstudien entstünde eine Ethnologie des Inlands in einer Gesellschaft, in denen die Milieus einander zum Exotikum geworden sind.
Peter Widmann, geboren 1968, ist Politikwissenschaftler und koordiniert das Projekt "Marburg International Doctorate" an der Philipps-Universität Marburg. Er hat an der Technischen Universität Berlin über die Integrationspolitik deutscher Kommunen promoviert und war Mitarbeiter am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Vor 2010 bis 2015 lehrte und forschte er als DAAD-Lektor am Europa-Institut der Istanbul Bilgi University.
Der Politikwissenschaftler Peter Widmann
Der Politikwissenschaftler Peter Widmann© Foto: privat
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