Poseidons schreckliche Fluten

11.07.2013
Ein namenloses Dorf soll einem künstlichen See weichen, und die Bewohner müssen sich auf die Sprengung ihrer Häuser vorbereiten. Das Fantastische, das Annika Scheffel ihnen als Überlebensmittel zuteilt, ist zugleich ihr Stilmittel, um das Thema von aktuellen Bezügen zu befreien.
Auf den ersten Blick könnte man Annika Scheffels Roman "Bevor alles verschwindet" als eine Reaktion auf die Wassermassen verstehen, die in den letzten Jahren, und gerade erst kürzlich wieder, ganze Städte und Landschaften zu überfluten drohten. Annika Scheffel siedelt ihren Roman auch im Handy- und Technozeitalter an. Die Idee zu ihrem Buch stammt aber aus den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Damals wurden in der Lausitz viele Dörfer künstlich geflutet, die Großeltern der Autorin waren davon betroffen. Wobei der Verlust – ob durch Naturgewalt oder künstliche Flutung – derselbe bleibt.

Die Flutung eines namenlosen Ortes, ein Baukastengebilde aus Kirche, Friedhof, Rathaus, Bäcker, Arzt und ein paar Wohnhäusern steht unmittelbar bevor. Ein Fluss soll gestaut werden, ein Ort verschwinden, damit ein See und ein Erholungsgebiet entstehen können. Die Modelle des Projektentwicklers "Poseidon" sind schön und bunt. Aber die Realität besteht nicht aus Modellen, sondern aus Menschen mit ihren Häusern, ihren individuellen Leben und Gewohnheiten.

Annika Scheffel engagiert sich literarisch im Kampf für die Umwelt, indem sie solche Praktiken anprangert, aber vor allem ist sie eine zum Romantischen neigende Autorin, die am Beispiel einer Dorfbevölkerung eine sehr eigenwillige Typologie erfindet. Ihre Ortsbewohner sind getrieben von Obsessionen und Leiden, geprägt von Tugenden wie Treue und Liebe. In der dörflichen Isoliertheit konnten sie ihre Eigenheiten, ihre Fantasiebegabung, begleitet von einer Sehnsucht, der Realität zu entfliehen, kultivieren.

Phantome und Fantasien
Die kleine Clara sieht und spricht mit einem blauen Fuchs und einem Plastiktotenkopf, und auch Wacho, der Bürgermeister, ist von einem Phantom besetzt. Seine Frau Anna hat ihn und seinen Sohn David vor Jahren verlassen. Wacho will das nicht wahrhaben und erwartet täglich ihre Wiederkehr. David, inzwischen ein Mann von 30, ist von diesem Warten und dem gleichzeitigen Hass darauf wie gelähmt. Er imaginiert sich Milo, eine nur für ihn reale Figur, herbei. Robert, der Dorfschauspieler geworden wäre, steigert sich in eine große Rolle hinein, eine Witwe in das Leben ihres verstorbenen Mannes, die unzertrennlichen Zwillinge in ein jeweils eigenständiges Leben.

Annika Scheffel benutzt das Fantastische so versiert, dass das Realistische und damit das eigentlich Dramatische, die Sprengung der Häuser, die bevorstehende Flutung, verblasst. So verliert die Schreckensszenerie, weil jeder seine Art hat, sich ihr zu entziehen, an Wucht. Die Autorin entwickelt mit ihrer Sprache und der Vermischung der Welt, wie sie ist und wie sie sein könnte, einen verführerischen Sog.

Das Fantastische, das die Autorin ihren Personen als Überlebensmittel zuteilt, ist zugleich ihr eigenes Stilmittel, um das realpolitische Thema von aktuellen Bezügen zu befreien. Das nivelliert die Schicksalsverstricktheit und nimmt dem Stoff die Dramatik. Stattdessen hat sich Scheffel für einen zeitfernen Märchenton entschieden, den sie gekonnt durchhält.

Besprochen von Verena Auffermann

Annika Scheffel: Bevor alles verschwindet
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
411 Seiten, 19,95 Euro