Filmfestspiele von Venedig - Dokumentarfilme

Rassismus ist das amerikanische Thema

Rosa Parks
US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks. 1955 wurde sie verhaftet, weil sie sich in Montgomery, Alabama, weigerte, ihren Platz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. © imago/UIG
Von Christiane Peitz · 09.09.2017
Im Dokumentarfilm "The Rape of Recy Taylor" erzählt Nancy Buirski die Geschichte der schwarzen Frau Recy Taylor, die 1944 in Louisiana Opfer einer Massenvergewaltigung wurde. Die Bürgerrechtlerin Rosa Parks sorgte mit dafür, dass es zum Prozess kam, doch die Täter kamen davon.
Der US-Dokumentarist Errol Morris, der sich mit der oscarprämierten Produktion "The Fog of War" und einem Abu-Ghraib-Film einen Namen machte, zeigte außer Konkurrenz die Netflix-Mini-Serie "Wormwood". Der Wissenschaftler und CIA-Mitarbeiter Frank Olson fiel 1953 aus einem New Yorker Hotelfenster: Unfall, Selbstmord oder Mord? Erst 1976 enthüllte die Presse, dass Olson für den Geheimdienst an Biowaffen arbeitete und er ohne sein Wissen an Menschenexperimenten mit LSD beteiligt war. Aber ist das schon die ganze Wahrheit? Errol Morris in Venedig:
"Es sind zwei wichtige Geschichten. Zum einen wird ein Verbrechen begangen, ein Mord, eine Hinrichtung, ein Attentat, wie immer man es nennen will. Die andere, die mich noch mehr interessiert, ist das Vertuschen des Verbrechens. Regierungen sind gut darin, Verbrechen zu begehen und sie zu vertuschen. Faszinierenderweise gibt es immer noch eine unerzählte Geschichte. Über all das, was unternommen wird, um die Leute zu verwirren, um Beweise zu zerstören, falsche Beweise herzustellen und die Menschen in die Irre zu führen, weit weg von der Wahrheit."

Nancy Buirskis "The Rape of Recy Taylor"

Morris greift in die digitale Trickkiste, mischt die Aussagen von Olsons Sohn, seinem Kronzeugen, mit Homemovies, Interviews, Archiv-Dokumenten, Reenactments und fiktiven Szenen. Schnelle Schnitte, Splitscreen, bombastischer Soundtrack. Ein Zugeständnis an die Streaming-Nutzer? Die Empörung über Regierungsverbrechen und Fake News gibt unmissverständlich den Ton an.

Nancy Buirski geht im Dokumentarfilm "The Rape of Recy Taylor" über die Massenvergewaltigung einer Schwarzen 1944 in Louisiana ruhiger vor, nachhaltiger. Das Opfer, Recy Taylor, gehörte zu den wenigen, die an die Öffentlichkeit gingen. Die Geschwister berichten vor der Kamera, wie die junge religiöse Mutter als Prostituierte denunziert wurde und die Täter davonkamen. Rosa Parks, die Bürgerrechtlerin des Bus-Boykotts von 1955, sorgte mit dafür, dass es zum Prozess kam - erneut vergeblich. Das Erbe der Sklaverei, die Vorherrschaft der Weißen, wieder das Vertuschen: Rassismus ist das amerikanische Thema, betont die Filmemacherin.
"Wir lernen viel über uns selbst, wenn wir in die Geschichte zurückschauen. Wir sehen, dass sie sich immer und immer wiederholt. Die Vergewaltigung von Recy Taylor: Leider ist das ein Phänomen, das nicht verschwindet. Heute geschieht es auf dem Campus von Universitäten oder im Militär. Und die Tatsache, dass betroffene Frauen meistens zögern, darüber zu sprechen, während Recy Taylor es sehr unerschrocken getan hat, erinnert uns daran, wie selten das ist. Jeden Tag findet statt, wovon der Film handelt."

Vergessene schwarze Kinokultur - die "Race Movies"

Nancy Buirskis Film zeigt auch Szenen aus den sogenannten "Race Movies" jener Zeit. Filme von Schwarzen für Schwarze, die rassistische Gewalt, Diskriminierung und Übergriffe etwa auf Dienstmädchen aus deren Sicht schildern. So eröffnet der Film nicht nur eine Gegenperspektive zur offiziellen Geschichtsschreibung, sondern fördert auch eine vergessene schwarze Kinokultur zutage. Es dauerte 70 Jahre, bis Taylor eine offizielle Entschuldigung erhielt. Beharrlichkeit nützt, hofft die Regisseurin und macht sich keine Illusionen. Denn beides findet heute in Amerika statt, die Bewegung "Black Live Matters" und der rassistische Terror von Charlottesville.
"Wenn man etwas durch das Objektiv der Geschichte betrachtet, entsteht ein etwas geschützterer Ort für den Betrachter, um sich dem Ereignis zu nähern. Denn man hat ja die Distanz des historischen Rückblicks. Aber so ganz stimmt das nicht: Gerade Frauen sind von dem historischen Filmstoff so bewegt, als handele es sich um ein aktuelles Ereignis."

Langzeitbeobachtung in Kuba

Den traurigsten Dokumentarfilm hat der einstige Fidel-Castro-Fan Jon Alpert zum Lido mitgebracht. In seiner Langzeitbeobachtung "Cuba and the Cameraman" sucht er außer dem Máximo Líder immer wieder drei Bauern-Brüder und andere einfache Leute in Kuba auf, fragt, ob sie Arbeit haben und genug zu essen. Jedes Mal schaut er in ihre Kühlschränke, über die Jahrzehnte werden sie immer leerer. Der Hunger als Preis der Revolution: Wieder macht die Beharrlichkeit der Kamera das Private zum Politikum. Fake News, Rassismus, Menschen als Spielball der Weltpolitik - alte Geschichten, immer noch Gegenwart. Der Blick zurück erweist sich als Blick in den Spiegel.