Auf Sand gebaut
Jahrzehntelang haben sich staatliche Stellen nicht um Portugals gefährdete Küste gekümmert. Bürgermeister genehmigten riesige Bauprojekte am Meer, obwohl das Problem der Erosion bekannt war. Jetzt rächt sich, dass die Küstenschutzpolitik die Tourismus- und Umweltbelange nicht berücksichtigt.
Seine Ferien am Strand hatte sich der Rentner Gregorio Francisco anders vorgestellt: Eigentlich wollte er in der Sonne sitzen, ein bisschen angeln und entspannen. Stattdessen donnern Lastwagen über die Uferstraße des Badeortes Barra, röhren Bagger, die Sand auf den fast verschwundenen Strand schaufeln.
"Vor 20 Jahren war der Strand hier riesig. Und jetzt ist all der Sand weg."
Klimawandel und Küstenerosion setzen Portugals Atlantikküste schwer zu. Immer stärkere Stürme im Winter und das ständige Ansteigen des Meeresspiegels verändern die Uferlandschaft, auch in dem beliebten Strandörtchen Barra am der idyllischen 'Ria de Aveiro', einer Haff-Landschaft im Norden:
"Es ist schlimm. Noch vor 20 Jahren standen hier Fischerhütten, zogen Ochsen die Netze aus dem Meer auf den Strand. Heute ist der Strand praktisch weg, gibt es nicht einmal mehr Platz für die Fischerboote. So weit ist das Meer vorgedrungen."
In Portugal tritt vielleicht schneller als erwartet ein, wovor Wissenschaftler seit Jahren warnen: In weniger als 100 Jahren könnte Lissabons Hauptplatz Terreiro do Paço ebenso unter Wasser stehen, wie der berühmte Turm Torre de Belém und das stolze Jeronimos-Kloster nebenan – beides UNESCO-geschützte Baudenkmäler.
Wenn der Wasserspiegel des Atlantiks weiter so ansteigt, wie bisher, dürfte Portos historische Altstadt 'Ribeira' in der Mündung des Douro-Flusses verschwinden, haben Klimaforscher errechnet. Selbst tief liegende Städte im Landesinneren seien gefährdet. Die Politiker sollten sich schon einmal überlegen, was sie tun wollen, falls diese Horrorszenarien eintreten, warnt der Klimaforscher Filipe Duarte Santos:
"In Portugal wird es unmöglich sein, den gegenwärtigen Verlauf der Küstenlinie zu erhalten. Dafür ist sie zu lang und zu anfällig. Denn unsere Küste ist eine der energiereichsten Europas."
Duarte Santos weiß, wovon er spricht. Seit Jahrzehnten untersucht der Professor an der Universität Lissabon die Folgen des Klimawandels. Jetzt leitet er die eilig gegründete "Arbeitsgruppe Küste" der Regierung, die Vorschläge machen soll, was in Sachen Küstenschwund getan werden kann. Leicht werde das nicht, gibt Duarte Santos unumwunden zu:
"Noch in jüngster Vergangenheit wurden viele Fehler bei der Raumordnung im Küstenbereich gemacht. In den Dünen wurde viel zu viel gebaut. Jetzt müssen wir diese Bausünden für teures Geld schützen, oder, wo das nicht mehr möglich ist, die Menschen umsiedeln."
Gut 100 Kilometer nördlich des Badeortes Barra ist dieser schlimmste aller Fälle bereits eingetreten. Die Gebäude am Strand von São Bartolomeu do Mar müssen weg, Abrissbagger drücken gerade die Wände des Geburtshauses von Manuel Santos ein.
Wo einst ein fast endloser Sandstrand lag, donnern Wellen jetzt gegen Häuser
"Wir werden das alles sehr vermissen. Ich bin hier geboren, habe meine Kindheit an diesem Strand verbracht. Es wird nie mehr so sein wie früher."
Der Anblick ist trostlos: Wo einst ein schier endloser Sandstrand lag, donnern die Wellen jetzt fast gegen die Häuser. Auch die Felsbrocken, die die Anwohner verzweifelt als Wellenbrecher angehäuft hatten, sind verschwunden, die Terrasse eines Hauses ist weggebrochen.
"Das hat von einem Moment auf den anderen angefangen. Vor sechs Jahren war alles noch in Ordnung. Dann wurde es jedes Jahr schlimmer. Das Meer drang immer schneller immer weiter vor. Unglaublich."
Jetzt soll eine Art künstliche Düne aufgeschüttet werden, damit der Atlantik nicht auch noch die fruchtbaren Felder flutet und der Dorfkern weiter hinten geschützt ist. Wenigstens für die nächsten Jahre. Es gebe noch viel zu tun, versichert der Küstenschutzexperte Fernando Veloso Gomes, der den Fall São Bartolomeu do Mar eingehend studiert hat:
"Nachdem die Häuser abgerissen sind, muss das Meer irgendwie gestoppt werden. Außer den landwirtschaftlichen Nutzflächen wären sonst auch eine wichtige Nationalstraße und mehrere Hundert Menschen in Gefahr."
Der Kreis Esposende ganz im Norden Portugals, zu dem der Ort São Bartolomeu do Mar gehört, ist von der Küstenerosion besonders hart betroffen, berichtet der Landrat Benjamin Pereira. Mehrere Wohngebiete seien in Gefahr, sogar drei Hochhäuser, die zu nah ans Meer gebaut wurden. Probleme, die die Kreisverwaltung auf keinen Fall allein lösen könne:
"Das alles macht uns große Sorgen. Wir wissen um die Probleme und hoffen, dass die Zentralregierung uns hilft. Allein können wir dem Meer nicht widerstehen."
Doch die Hilfe kommt Portugal immer teurer zu stehen: Drei Millionen Euro kostet allein die Rettungsaktion im Dörfchen São Bartolomeu do Mar. Um alle anderen Küstenlöcher im Kreis zu stopfen, wären noch einmal mindestens 20 Millionen nötig, meint der Landrat. Vom Rest des Landes ganz zu schweigen:
"Im Lauf der Jahre wurden schwere Fehler gemacht, es gab keine Planung. Entlang der Küste wurde viel zu viel gebaut und jetzt sind viele Ortschaften bedroht. Wenn wir nichts unternehmen, laufen ganze Städte Gefahr, überschwemmt zu werden."
Das Problem Küstenerosion ist schon seit Jahrzehnten bekannt. Trotzdem wurde gebaut, was das Zeug hielt, erinnert sich der Küstenschutzexperte Veloso Gomes:
"Die Leute wollten Hotels direkt am Meer, Strandwohnungen und Restaurants an der Küste. Dieser Freizeitgesellschaftsdruck hat zwar die Lebensqualität kurzfristig verbessert, aber dafür hat die Küste ihre Stabilität verloren."
Darüber hinaus wurden an allen großen Strömen Portugals Staumauern gebaut. Die verhindern, dass Sedimente aus den Flüssen Sand, den das Meer wegspült, wieder auffüllen konnten. Der Klimaforscher Filipe Duarte Santos:
"Sand wurde unkontrolliert aus den Flüssen und dem Meer gebaggert, um Häuser und Autobahnen zu bauen. Das hat der Küste und insbesondere den Mündungsgebieten schweren Schaden zugefügt."
Ironie des Schicksals: Zuletzt haben sogar manche Rettungsmaßnahmen die Lage verschlimmert. Wellenbrecher und Molen, die zum Schutz eines Ortes gebaut wurden, verstärkten die Erosion andernorts, weil Strömungen verändert wurden. Die Natur sei am Ende eben immer stärker als der Mensch, stellt der Küstenschutzfachmann Veloso Gomes trocken fest:
"Die Meeresdynamik setzt uns klare Grenzen. Der Küstenschutz und der Unterhalt der Anlagen werden nicht nur immer teurer werden. Irgendwann geht gar nichts mehr."
Trotzdem entsteht bei dem mittelportugiesischen Städtchen São Pedro de Muel der Retortenbadeort Pedra de Ouro.
Möwen kreisen über der Tonerde-Klippe, die zwanzig, dreißig Meter zum Meer abstürzt. Im wahrsten Sinne des Wortes, weil die Atlantikwellen an ihr nagen. Teile eines Parkplatzes sind schon jetzt weggebrochen. Die Gartenmauern der Häuser direkt am Kliff hängen fast in der Luft. Daneben Werbeplakate, die eine noch zu bauende Ferienanlage anpreisen. Der Umweltschützer Mário Oliveira ist entrüstet:
"Es wird noch 10, 20 Jahre dauern, bis die Häuser hier einstürzen"
"Alle Institutionen, die sich mit Landschafts- und Küstenschutz beschäftigen, haben lange vor Baubeginn vor diesem unsinnigen Projekt gewarnt. Man kann doch keine Kleinstadt ohne Sicherheitsabstand auf erosionsgefährdeten Klippen bauen! Aber erst jetzt wird allen klar, dass eine dieser Klippen schon bald wegbrechen und den Einsturz aller anderen beschleunigen kann."
Während die Fachleute noch darüber streiten, wann der Klippen-GAU eintritt, sorgt sich der Wirt Paulo Ferreira um seine Existenz:
"Als ich das Geschäft hier gekauft habe, habe ich oft gescherzt, in einigen Jahren hätte ich freien Blick aufs Meer. Aber jetzt sehe ich, dass dieser Tag näher ist, als ich mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt habe."
Paulo Ferreiras Restaurant steht in der zweiten Reihe hinter anderen Häusern am Strand Pedra de Ouro. Der Mann Mitte 30 hofft jetzt auf die Hilfe der Behörden:
"Ich denke, es wird noch 10, 20 Jahre dauern, bis die ersten Häuser hier einstürzen. Aber vorher muss doch alles getan werden, um das zu verhindern."
Darauf verlassen sollte der Wirt sich allerdings nicht. Angesichts der dramatischen Lage soll die "Planungsgruppe Küste" unter Leitung des Klimaspezialisten Filipe Duarte Santos jetzt eine Art Gesamtkonzept in Sachen Küstenschutz erarbeiten. Dabei seien alle Optionen offen, versichert der Wissenschaftler:
"Wir müssen die Orte auswählen, die wir durch massive Küstenbefestigungen schützen wollen. Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten. Neben Schutzbauten können wir uns auch den natürlichen Gegebenheiten anpassen, also Dünenlandschaften wieder herstellen, oder uns ganz aus gefährdeten Gebieten zurückziehen und die Bewohner umsiedeln."
Noch sind die Schlussfolgerungen der Wissenschaftler geheim, sie sollen demnächst dem zuständigen Umweltminister vorgelegt werden. Doch daraus, dass wohl einige der schicken Feriensiedlungen in Meeresnähe in den nächsten Jahren verschwinden werden, macht Duarte Santos kein Hehl:
"Natürlich fordern vor allem die besorgten Kommunalpolitiker den Bau von teuren und massiven Schutzanlagen für ihre Gemeindegebiete. Aber wir brauchen eine globale Perspektive für das Problem. Denn ganz sicher kann das Land sich teure Lösungen nicht überall leisten."
Die Diskussion darüber, was geschützt werden muss und was aufgegeben werden kann, hat bereits begonnen. Der Küstenschutzfachmann Veloso Gomes nennt die Kriterien, nach denen vorgegangen werden soll:
"An erster Stelle stehen natürlich historisch gewachsene Städte am Meer. Die müssen um jeden Preis geschützt werden. Am unteren Ende der Liste stehen die Orte, die wenig Einwohner haben, architektonisch wenig interessant sind oder keine historischen Bauwerke besitzen. Oft sind solche Städte auch illegal entstanden."
Der Retortenbadeort am Strand Pedra de Ouro dürfte nach dieser Definition auf der Rettungsliste eher weiter hinten stehen. Trotzdem wird dort weiter gebaut. Der Wirt Paulo Ferreira ist hin und her gerissen, weiß nicht, ob er sich ärgern oder freuen soll:
"Hier ist sogar ein Golfplatz geplant. Alles nur vom Feinsten. Das ist ein Mega-Projekt mit vielen Hotels und noch mehr Häusern. Andererseits haben wir hier nicht einmal Kanalisation oder eine Kläranlage. Ich kann mir vorstellen, dass all die Abwässer, die im Boden versickern, die Erosion noch verstärken. Je mehr Menschen, desto größer wird das Problem, das ist doch logisch."
Immerhin hat inzwischen ein Gericht einen Baustopp für eines der Projekte am Strand Pedra de Ouro verhängt. Die Projektbetreiber haben dagegen allerdings Widerspruch eingelegt. Jetzt müssen Portugals oberste Richter entscheiden, was wichtiger ist: Wirtschaftsinteressen oder Erosions- und Küstenschutz.