Porträt einer unglaublichen Liebe

Rezensiert von Claudia Kramatschek |
"Zwei Leben" ist das bis dato wohl persönlichste Buch des indischen Schriftstellers Vikram Seth: Er hat darin die Liebesgeschichte seines Onkels Shanty und seiner Tante Henny verewigt, in der sich auf schicksalhafte Weise das 20. Jahrhundert widerspiegelt.
Shanty und Henny kommen im selben Jahr, 1908, zur Welt, Shanty im nordindischen Biswan, Henny in Berlin. Und keiner der beiden ahnt, dass ihre Wege sich im faschistischen Deutschland kreuzen und lebenslang miteinander verbinden werden.

Denn Shanty zieht 1931 nach Berlin – ohne ein Wort Deutsch zu beherrschen – um dort Zahnarzt zu werden. Er mietet ein Zimmer – und verliebt sich in Henny, eine der beiden Töchter des Hauses. Doch bald schon wird deutlich, dass Shanty unter den Nazis nicht praktizieren kann. Er verlässt Deutschland und geht nach London – wo 1939 auch Henny eintrifft: Sie ist die einzige Jüdin aus dem Berliner Freundeskreis, der die Flucht gelungen ist. Ihre Mutter und ihre Schwester Lola werden deportiert und im Konzentrationslager sterben, ihrem Bruder Heinz wird die Flucht nach Argentinien gelingen.

Henny und Shanti aber werden in London bleiben – wo sie 1951 nach langen Jahren der Freundschaft heiraten. Und hier in London – wir sind im Jahre 1969 – wird auch Vikram Seth bei ihnen wohnen, als er siebzehn Jahre alt ist und auf ein englisches Internat gehen soll. Henny wird ihm Deutsch beibringen, und für Shanti wird er bald wie ein eigener Sohn. 1989 stirbt Henny, 1998 Shanti. Zwei Leben – und ein entscheidendes Jahrhundert gehen zu Ende.

Der Roman "Zwei Leben" ist somit eine Spurensuche des Autors selbst. Doch vor allem spiegelt er in den Memoiren der beiden geliebten Menschen zugleich die Geschicke des 20. Jahrhunderts wider. Denn im Leben beider haben sich die persönliche und die politische Geschichte auf unausweichliche Weise durchdrungen.

Von Henny und Shanti zu erzählen, heißt auch vom British Raj und von der indischen Unabhängigkeit zu erzählen, vom Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg, von der Vernichtung und der Emigration der Juden, vom Nachkriegsdeutschland und von Israel und Palästina. Seth wechselt dabei beständig die Perspektive: Seine beiden Hauptfiguren lässt er durch Briefe und andere persönliche Dokumente, die von ihrem Leben Zeugnis ablegen, in einer Art Nahaufnahme sprechen, sowie durch Interviews und Gespräche.

Das erzeugt den Effekt einer "dichten Beschreibung" – die in ihrer Detailfülle manchmal jedoch zu weit verzweigt scheint. Im Gegensatz dazu wählt er für die Schilderung der historischen Ereignisse eine "Weitwinkelperspektive" – so Seths eigener Ausdruck. Seth hält sich hier zumeist betont knapp – auch, bei allem angelesenem Wissen, aus eingestandener mangelnder historischer Kenntnis heraus.

Doch gerade diese Verschiebung – dass die deutsche Katastrophe des 20. Jahrhunderts nicht das Zentrum aller Geschichtsschreibung ist – macht seinen Blick an dieser Stelle für deutsche Leser interessant. Ob die deutschen Leser auch seinem Gedankenausflug in die Gegenwart folgen werden, deren Bedrohungen durch islamistischen Terror er quasi als Langzeiteffekt auch der deutschen Geschichte ansieht – Stichwort Gründung Israels, das ist eine andere – deutsche – Frage. Man darf gespannt sein auf die hiesigen Reaktionen.


: Zwei Leben. Porträt einer Liebe
Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube.
S. Fischer Verlag 2006.
532 Seiten. 22,90 Euro