Porträt einer Auschwitz-Überlebenden
„Gerdas Schweigen“ ist das Porträt einer Auschwitz-Überlebenden. Es ist zugleich ein sehr persönliches Buch des Berliner Journalisten Knut Elstermann. Er berichtet, wie und warum Gerda ihr 60 Jahre währendes Schweigen endlich bricht, aber er erzählt auch, wie ihn die langen Gespräche mit der eigenen verdrängten Geschichte konfrontierten.
Gerda Schrage ist 85 Jahre alt. Sie ist Jüdin, stammt aus Berlin und überlebte das Vernichtungslager Auschwitz. Heute lebt sie in New York. Dort hat sie der Berliner Journalist Knut Elstermann besucht, um ihre Geschichte aufzuschreiben. Einen Teil davon kannte er schon, denn Gerda gehörte als junge Frau praktisch zur Familie seiner Großmutter. Mit den Erzählungen über Tante Gerda, die der Autor als Kind zu hören bekam, konnte aber etwas nicht stimmen. Es gab verschiedene Versionen. Als Tante Gerda in den sechziger Jahren zu Besuch in Ostberlin war, wollte es der kleine Knut genau wissen. Er fragte sie nach ihrem verstorbenen Kind. Das war eine schlechte Frage:
„Sie sah mich völlig verständnislos an, so, als enthalte die Frage für sie nicht den geringsten Sinn. (...) Keine Antwort, nur dieser kurze Blick, der nichts ausdrückte außer der entschlossenen Abwehr einer falschen Frage.“
Das Tabu war Gerdas erstes Kind. Es wurde im KZ Auschwitz geboren und durfte nur einige Tage leben. Der berüchtigte SS-Arzt Dr. Josef Mengele ließ es in den Armen seiner Mutter verhungern. Gerdas Schweigen hat viel mit diesem Kind zu tun, mit seinem grauenhaften Sterben, und mit dem Vater. Das war der verheiratete Pelzhändler Zoltan Barothy. Er hatte ihr geholfen, als sie 1943 nach ihrer ersten Verhaftung aus dem Gefangenenlager im Berliner Stadtteil Tiergarten geflüchtet war.
Gerda war eine mutige Frau, sie lebte mitten in Berlin in der Illegalität und arbeitete sogar in ihrem Beruf als Kürschnerin. Der zweiten Verhaftung ein knappes Jahr später konnte sie sich nicht mehr entziehen. Sie kam nach Auschwitz. Aber Gerda gab nicht auf, sie wollte leben, und als beim Anmarsch der Roten Armee das Lager geräumt wurde, nutzte sie die erste Gelegenheit zur Flucht. Sie lebte wieder illegal in Berlin, traf auch wieder auf Zoltan Barothy und schlug sich nach dem Krieg als selbstständige Kürschnerin durch. Geheiratet hat sie Zoltan nicht. Gerda begann 1947 ein neues Leben in Amerika und wollte das alte vergessen:
„Ich wollte ja alles vergessen, was mit Auschwitz zu tun hatte. (...) Das wollte ich vergessen, das wollte ich verdrängen.“
Auch ihrem amerikanischen Mann und dem gemeinsamen Sohn hat sie nichts erzählt. Sogar jetzt noch, nachdem in Deutschland das Buch veröffentlicht wurde, wäre es ihr am liebsten, wenn der Sohn ihre Geschichte nicht erfahren würde. Selbst gegenüber deutschen Lesern hat sie, die verfolgte Jüdin, Schamgefühle:
„Deine Leser werden doch auch denken, dass ich eine Slut sei, eine Schlampe.“
Im Verlauf von neun Tagen erzählte Gerda ihre Geschichte. Knut Elstermann hat anschließend Recherchereisen von Auschwitz bis nach Israel unternommen, hat mit vielen Zeitzeugen gesprochen und viele Nebengeschichten untersucht. Schließlich erzählt er auch die Täter-Geschichte von seinem Großvater, die er auf dem Schulhof immer verschwiegen hatte, denn die Opfer-Geschichte, die von Tante Gerda, die kam damals besser an. Das Wort Betroffenheit hat wohl selten so gut gepasst.
„Der Antifaschismus in der DDR hatte seine tröstliche Seite, er entwirklichte das erschütternde Geschehen durch die Ritualisierung des Gedenkens und machte Debatten über persönliche Verantwortung überflüssig.“
Auf die kollektive Vergangenheitsbewältigung in der DDR reagiert Elstermann nun mit einem subjektiven Akt der Aufklärung, mit persönlicher Verantwortung. Und er erfährt, wie man sich erfolgreich einem repressiven Zwang entzieht, sei es das kollektive Schweigen oder eben jene sprachliche Ritualisierung:
„Erst nach meinen langen Gesprächen mit Gerda und nach meinen Besuchen in Israel kann ich das Wort „Jude“ völlig unbefangen aussprechen und sage nicht mehr, wie es in vielen offiziellen Reden heißt: „jüdischer Mitbürger“ oder „jüdische Menschen".“
Solche Wirkungen wünscht man auch dem Leser dieses Buches. Wie schwer aber das Sprechen im Tabu tatsächlich ist, erlebte man während der Pressekonferenz zur Vorstellung des Buches. Gerda Schrage war aus New York nach Berlin gekommen, aber ihr war es nicht möglich, unbefangen auf die Fragen der Journalisten zu antworten. Die Betreuerin vom Verlag musste ihre Antworten vortragen. Erst als man schon gehen wollte, brach die Jüdin noch einmal das Schweigen und sagte den Deutschen vor ihr im Saal, sie habe den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren.
Knut Elstermann: Gerdas Schweigen. Die Geschichte einer Überlebenden
be.bra verlag 2005,
190 Seiten, 16,90 Euro.
„Sie sah mich völlig verständnislos an, so, als enthalte die Frage für sie nicht den geringsten Sinn. (...) Keine Antwort, nur dieser kurze Blick, der nichts ausdrückte außer der entschlossenen Abwehr einer falschen Frage.“
Das Tabu war Gerdas erstes Kind. Es wurde im KZ Auschwitz geboren und durfte nur einige Tage leben. Der berüchtigte SS-Arzt Dr. Josef Mengele ließ es in den Armen seiner Mutter verhungern. Gerdas Schweigen hat viel mit diesem Kind zu tun, mit seinem grauenhaften Sterben, und mit dem Vater. Das war der verheiratete Pelzhändler Zoltan Barothy. Er hatte ihr geholfen, als sie 1943 nach ihrer ersten Verhaftung aus dem Gefangenenlager im Berliner Stadtteil Tiergarten geflüchtet war.
Gerda war eine mutige Frau, sie lebte mitten in Berlin in der Illegalität und arbeitete sogar in ihrem Beruf als Kürschnerin. Der zweiten Verhaftung ein knappes Jahr später konnte sie sich nicht mehr entziehen. Sie kam nach Auschwitz. Aber Gerda gab nicht auf, sie wollte leben, und als beim Anmarsch der Roten Armee das Lager geräumt wurde, nutzte sie die erste Gelegenheit zur Flucht. Sie lebte wieder illegal in Berlin, traf auch wieder auf Zoltan Barothy und schlug sich nach dem Krieg als selbstständige Kürschnerin durch. Geheiratet hat sie Zoltan nicht. Gerda begann 1947 ein neues Leben in Amerika und wollte das alte vergessen:
„Ich wollte ja alles vergessen, was mit Auschwitz zu tun hatte. (...) Das wollte ich vergessen, das wollte ich verdrängen.“
Auch ihrem amerikanischen Mann und dem gemeinsamen Sohn hat sie nichts erzählt. Sogar jetzt noch, nachdem in Deutschland das Buch veröffentlicht wurde, wäre es ihr am liebsten, wenn der Sohn ihre Geschichte nicht erfahren würde. Selbst gegenüber deutschen Lesern hat sie, die verfolgte Jüdin, Schamgefühle:
„Deine Leser werden doch auch denken, dass ich eine Slut sei, eine Schlampe.“
Im Verlauf von neun Tagen erzählte Gerda ihre Geschichte. Knut Elstermann hat anschließend Recherchereisen von Auschwitz bis nach Israel unternommen, hat mit vielen Zeitzeugen gesprochen und viele Nebengeschichten untersucht. Schließlich erzählt er auch die Täter-Geschichte von seinem Großvater, die er auf dem Schulhof immer verschwiegen hatte, denn die Opfer-Geschichte, die von Tante Gerda, die kam damals besser an. Das Wort Betroffenheit hat wohl selten so gut gepasst.
„Der Antifaschismus in der DDR hatte seine tröstliche Seite, er entwirklichte das erschütternde Geschehen durch die Ritualisierung des Gedenkens und machte Debatten über persönliche Verantwortung überflüssig.“
Auf die kollektive Vergangenheitsbewältigung in der DDR reagiert Elstermann nun mit einem subjektiven Akt der Aufklärung, mit persönlicher Verantwortung. Und er erfährt, wie man sich erfolgreich einem repressiven Zwang entzieht, sei es das kollektive Schweigen oder eben jene sprachliche Ritualisierung:
„Erst nach meinen langen Gesprächen mit Gerda und nach meinen Besuchen in Israel kann ich das Wort „Jude“ völlig unbefangen aussprechen und sage nicht mehr, wie es in vielen offiziellen Reden heißt: „jüdischer Mitbürger“ oder „jüdische Menschen".“
Solche Wirkungen wünscht man auch dem Leser dieses Buches. Wie schwer aber das Sprechen im Tabu tatsächlich ist, erlebte man während der Pressekonferenz zur Vorstellung des Buches. Gerda Schrage war aus New York nach Berlin gekommen, aber ihr war es nicht möglich, unbefangen auf die Fragen der Journalisten zu antworten. Die Betreuerin vom Verlag musste ihre Antworten vortragen. Erst als man schon gehen wollte, brach die Jüdin noch einmal das Schweigen und sagte den Deutschen vor ihr im Saal, sie habe den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren.
Knut Elstermann: Gerdas Schweigen. Die Geschichte einer Überlebenden
be.bra verlag 2005,
190 Seiten, 16,90 Euro.