Porträt

Ein emanzipatorisches Vermächtnis

"Weihnukkah": Vor dem Berliner Brandenburger Tor stehen festlich geschmückt ein Weihnachtsbaum und ein Chanukkaleuchter.
"Weihnukkah": Vor dem Berliner Brandenburger Tor stehen festlich geschmückt ein Weihnachtsbaum und ein Chanukkaleuchter. © Deutschlandradio / Melanie Croyé
Von Jochanan Shelliem |
Am 31. Dezember vor 125 Jahren starb Samson Raphael Hirsch. Der deutsche Rabbiner begründete die Neo-Orthodoxie und prägt das Judentum bis heute.
Weiße Hemden, schwarze Hosen, keine Payes, Kippa auf – ein medienbegeisterter Vater hat das Video mit dem Knabenchor einer ungenannten US-Gemeinde mit wippender Kamera zu Ehren von Samson Raphael Hirsch ins Netz gestellt. Vorne steht der Rabbiner mit weißem Bart und dirigiert voller Begeisterung. Wer glaubt, das 19. Jahrhundert habe keine Spuren im World Wide Web hinterlassen, der kennt unsere amerikanischen Glaubensbrüder nicht.
Nur um es eindeutig klarzustellen, Samson Raphael Hirsch stammt nicht aus den USA. Geboren vor 205 Jahren an der Waterkant, gestorben vor 125 Jahren in Frankfurt am Main – finden sich Vorträge, Buchpräsentationen und Gesänge zu Ehren dieses Begründers der Neo-Orthodoxie, der die Ethik von Talmud und Thora mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Neuzeit vermählen wollte, im Netz.
Ein Bruch, der Aufklärung geschuldet
Er war ein Kind seiner Zeit, die Wissenschaft vom Judentum später mit Marc Chagall und Albert Einstein, formierte sich im Aufwind der Aufklärung zur gleichen Zeit. Ein Außenposten in der Neuen Welt, das YIVO Institut in dem einstmals ebenso entlegenen wie unbedeutenden New York bewahrt heute die Briefe der gesammelten Korrespondenz jüdischer Geistesgrößen dieser Zeit, die im untergehenden Europa der deutschen Wehrmacht oder ihren Kollaborateuren in Wilna zum Opfer gefallen sind.
Raphael Hirsch studierten bei seinem Großvater Mendel Frankfurter den Talmud, später an der Universität Bonn klassischen Sprachen, Geschichte und Philosophie – dies war schon damals ein den Lehren der Aufklärung geschuldeter Bruch.
Anders als im heutigen Israel, wo orthodoxe Juden sich nach weit weit weg sehnen, zu den chassiddischen legendenreichen Anfänge jüdischen Geisteslebens im ländlichen Stetl, drängten die klugen Köpfe der Jüdischen Gemeinden zu Beginn des 19. Jahrhunderts in die Moderne. Die Emanzipation der jüdischen Gemeinden, die wirtschaftlichen Erfolge jüdischer Unternehmer und die Erkenntnisse der Wissenschaft, mit einem Wort, der Wind der Aufklärung revolutionierte das bis dahin im Ghetto konservierte Judentum.
Berliner Juden beginnen, "Weihnukkah" zu feiern
In Bonn begegneten sich zwei Studenten, Samson Raphael Hirsch, der sich dem orthodoxen Judentum verpflichtet fühlte, also der an das schriftliche Wort gebundenen Auslegung der Thora, und Abraham Geiger, der spätere Leiter der Reformbewegung. Anders als in Geigers Reformbewegung richten orthodoxe Juden ihr Leben nach der Halacha, Reformjuden agieren da flexibler. Mit ihnen ziehen später Orgeln in den Synagogen der großen Gemeinden ein, in Hamburg wird der Kabbalat shabbat für Geschäftsleute auf eine spätere Abendstunde gelegt, gut sechzig Jahre später feiern Berliner Weihnukkah, Rabbinerinnen führen Jüdische Gemeinden. Die Torah galt jüdischen Reformern als offenbart von Gott, von Menschen jedoch verfasst, sodass Gesetze auch neu auslegt, die Liturgien radikal verändert werden konnte. Das ging Samson Raphael Hirsch zu weit. Er sah sich als Bewahrer.
Samson Raphael Hirsch und Abraham Geiger studieren zur gleichen Zeit in Bonn. Als Geiger 1839 Rabbiner in Breslau wird, beginnt die Differenzierung der Reformbewegung, viele setzen sich aus den Einheitsgemeinden ab. Da lehrt Hirsch bereits in Oldenburg, verheiratet seit 1832 mit Johanna Jüdel, die ihm elf Kinder schenkt, er arbeitet er seine wichtigsten beiden Werke, darunter die Neunzehn Briefe, 1836 in Altona erschienen, vorsichtigerweise zunächst unter Pseudonym.
"Schön ist das Studium der Tora zusammen mit 'Derech Erez', das heißt der weltlichen Beschäftigung und weltlichen Studien..."
...so definierte Hirsch sein erzieherisches Ideal aus den Sprüchen der Väter mit einem Zitat von Rabbi Gamliel. Der ideale Jude – der Jissroel-Mensch, wie er ihn nannte, war seiner Meinung nach
"ein aufgeklärter Jude, welcher die Gebote beachtet."
Sein größtes Verdienst: Die Gründung einer Mittelschule für Mädchen
Dieses Ideal verlangte nach pädagogischer Betätigung, nach Verwirklichung durch mit Fachwissen versehen Kinder, Jungen wie Mädchen. Hirsch gründete drei Schulen, eine Primarschule, eine Sekundarschule und – vielleicht sein größtes Verdienst – eine Mittelschule für Mädchen. Welch ein Unterschied zum Frauenbild der Ultrareligiösen in Israel 125 Jahre nach seinem Tod.
Als Hirsch 1851 den Ruf der Israelitische Religionsgemeinschaft zu Frankfurt am Main erhält, wird die Gemeinde von der Spannung zwischen den Orthodoxen, geführt von Seligmann Bär Bamberger, und der Reformbewegung, mit ihren Vertretern im Philantropin, geprägt. Samson Raphael Hirsch versucht die Spannungen zu schlichten.
Der Rabbiner wirbt für ein jüdisches Engagement in beiden Welten, in der sakral durchdrungenen wie der profanen Welt und sichert seiner Bewegung außerhalb der von Liberalen, wie Orthodoxen bestimmten Einheitsgemeinde eine respektierte Position. Rabbiner Hirschs Bewegung der Neo-Orthodoxie wird zur einflussreichen „Austrittsgemeinde“ am Main.
1853, zwei Jahre später, setzte er sein pädagogisches Konzept in die Praxis um und gründet die Realschule für Knaben und das Lyzeum für Mädchen, die Institution wird 1928 nach ihm benannt und 1939 von den Nationalsozialisten geschlossen werden.
Als die Lichtfigur der Frankfurter Gemeinde nach 37 Jahren im Amt am 1. Januar 1889 auf dem Jüdischen Friedhof in der Rat-Beil-Straße zu Grabe getragen wird, begleiteten 15 000 Menschen seinen Sarg. Das emanzipatorische Vermächtnis des weitblickenden jüdischen Denkers Samson Raphael Hirsch wird bis zum heutigen Tag bewahrt.