Porträt des großbürgerlichen Kataloniens
18.10.2007
Mario Lacruz (1929-2000) war eine Schlüsselfigur der spanischen Literaturszene. Sein Roman <em>Auf Abendwegen</em>, der Mitte der 50er Jahre heraus kam und jetzt zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erscheint, wurde als ästhetischer Einschnitt empfunden.
Mit dem allgemein üblichen sozialen Realismus hatte Lacruz nichts zu tun, statt dessen knüpfte er an europäische Strömungen wie den Existenzialismus an und prägte mit seinen atmosphärisch dichten Landschaftsbeschreibungen, prägnanten Figuren und einer subtilen Psychologie eine neue Erzählweise.
Doch statt sich als Schriftsteller zu etablieren und seine frühen Erfolge auszuschlachten, verlagerte sich der Absolvent der juristischen Fakultät Lacruz auf verlegerische Aktivitäten. Vierzig Jahre lang wirkte der 1929 in Barcelona geborene Schriftsteller für die Häuser Plaza y Janés und Seix y Barral, förderte Talente und schuf in Spanien, nach den Worten seines Kollegen Vásquez Montalban, überhaupt erst eine demokratische literarische Kultur.
Dass er heimlich weiterhin Romane schrieb, entdeckte seine Familie erst kurz nach seinem überraschenden Tod: in einem alten Schrank stieß seine Frau auf zehn unveröffentlichte Manuskripte.
Auf Abendwegen spielt kurz vor Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs Mitte der dreißiger Jahre. Unberührt von politischen Umwälzungen führt das Großbürgertum sein stilvolles Alltagsleben, bei dem es vor allem auf die passende Krawatte und das richtige Bonmot zum Aperitif ankommt.
Der Held David René, Sohn einer alteingesessenen und seit jeher im Korkgeschäft führenden Familie, ist ein veritabler Müßiggänger. Der elegante Mittdreißiger bewohnt ein Haus in Barcelona, das ihm seine Tante vermacht hat, tingelt täglich von Salon zu Salon mit Zwischenstation im Schwimmclub, geht zum Schein dann und wann in den familieneigenen Verlag, unterhält eher leidenschaftslos eine Liebelei mit einer jungen Französin und trägt sich täglich mit dem Gedanken, in Kürze ein umwälzendes literarisches Werk zu verfassen.
Mit seinem Herzen allerdings hat er sich seit seiner Kindheit nicht von Tina, der Gefährtin aus Figueras und alten Familienfreundin, lösen können. Diese Tina hält ihn innerlich in Schach. In Rückblenden tauchen Kindheitsszenen aus der Versenkung auf, unterbrochen von Erinnerungen an seine Jugend und den tragischen Unfalltod des Bruders. Alle Sehnsüchte, Hoffnungen und Bestrebungen Davids scheinen sich bis zum heutigen Tag auf Tina zu vereinen.
Als er jedoch durch einen Brief seiner Schwester von drohenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten erfährt und nach Figueras zitiert wird, um dort die familiären Angelegenheiten, die seit dem Tod der geschäftstüchtigen Mutter in Aufruhr geraten sind, wieder zu ordnen, misslingt eine Annäherung an das Objekt seiner Sehnsucht. Denn als er der echten Tina gegenüber steht und mit einer tatsächlichen Frau und nicht mit einem Traumgeschöpf umgehen muss, wird ihm das Ausmaß der Komplexität menschlicher Bindungen bewusst. Am Ende zieht er es vor, in seinen Phantasien zu verharren und auf das wirkliche Leben zu verzichten.
Lacruz arbeitet mit einem doppelten Erzähler und lässt abwechselnd mit einer übergeordneten Erzählerstimme auch den Helden direkt das Wort ergreifen. In kursiv gedruckten Passagen mischt sich David ein und schildert die Ereignisse aus seiner Perspektive. Durch diesen narrativen Trick wird Lacruz' Protagonist zu einer vielschichtigen und widersprüchlichen Figur: wir können ihn abwechselnd von innen und außen wahrnehmen und werden selbst zum Analytiker seiner seelischen Wirrnisse.
David steht nicht zu seinen Gefühlen, weil er dafür seine lebensabstinente Haltung hätte aufgeben müssen. Darin scheint er den großen Gestalten der Fin de Siécle-Literatur verwandt - man fühlt sich erinnert an erschöpfte Habsburger, wie sie Italo Svevo und Robert Musil erfanden.
Lacruz bietet vieles in seinem Roman: Milieustudie, Psychogramm und ein Porträt des großbürgerlichen Kataloniens. Dass die melancholisch-traumverhangene Liebesgeschichte Mitte der fünfziger Jahre als Wegmarke gefeiert wurde, kann man heute nicht mehr ganz nachvollziehen. Aber ein schöner Roman ist Auf Abendwegen allemal.
Rezensiert von Maike Albath
Mario Lacruz: Auf Abendwegen
Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann
Atrium Verlag Zürich 2007
288 Seiten. 19, 90 Euro.
Doch statt sich als Schriftsteller zu etablieren und seine frühen Erfolge auszuschlachten, verlagerte sich der Absolvent der juristischen Fakultät Lacruz auf verlegerische Aktivitäten. Vierzig Jahre lang wirkte der 1929 in Barcelona geborene Schriftsteller für die Häuser Plaza y Janés und Seix y Barral, förderte Talente und schuf in Spanien, nach den Worten seines Kollegen Vásquez Montalban, überhaupt erst eine demokratische literarische Kultur.
Dass er heimlich weiterhin Romane schrieb, entdeckte seine Familie erst kurz nach seinem überraschenden Tod: in einem alten Schrank stieß seine Frau auf zehn unveröffentlichte Manuskripte.
Auf Abendwegen spielt kurz vor Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs Mitte der dreißiger Jahre. Unberührt von politischen Umwälzungen führt das Großbürgertum sein stilvolles Alltagsleben, bei dem es vor allem auf die passende Krawatte und das richtige Bonmot zum Aperitif ankommt.
Der Held David René, Sohn einer alteingesessenen und seit jeher im Korkgeschäft führenden Familie, ist ein veritabler Müßiggänger. Der elegante Mittdreißiger bewohnt ein Haus in Barcelona, das ihm seine Tante vermacht hat, tingelt täglich von Salon zu Salon mit Zwischenstation im Schwimmclub, geht zum Schein dann und wann in den familieneigenen Verlag, unterhält eher leidenschaftslos eine Liebelei mit einer jungen Französin und trägt sich täglich mit dem Gedanken, in Kürze ein umwälzendes literarisches Werk zu verfassen.
Mit seinem Herzen allerdings hat er sich seit seiner Kindheit nicht von Tina, der Gefährtin aus Figueras und alten Familienfreundin, lösen können. Diese Tina hält ihn innerlich in Schach. In Rückblenden tauchen Kindheitsszenen aus der Versenkung auf, unterbrochen von Erinnerungen an seine Jugend und den tragischen Unfalltod des Bruders. Alle Sehnsüchte, Hoffnungen und Bestrebungen Davids scheinen sich bis zum heutigen Tag auf Tina zu vereinen.
Als er jedoch durch einen Brief seiner Schwester von drohenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten erfährt und nach Figueras zitiert wird, um dort die familiären Angelegenheiten, die seit dem Tod der geschäftstüchtigen Mutter in Aufruhr geraten sind, wieder zu ordnen, misslingt eine Annäherung an das Objekt seiner Sehnsucht. Denn als er der echten Tina gegenüber steht und mit einer tatsächlichen Frau und nicht mit einem Traumgeschöpf umgehen muss, wird ihm das Ausmaß der Komplexität menschlicher Bindungen bewusst. Am Ende zieht er es vor, in seinen Phantasien zu verharren und auf das wirkliche Leben zu verzichten.
Lacruz arbeitet mit einem doppelten Erzähler und lässt abwechselnd mit einer übergeordneten Erzählerstimme auch den Helden direkt das Wort ergreifen. In kursiv gedruckten Passagen mischt sich David ein und schildert die Ereignisse aus seiner Perspektive. Durch diesen narrativen Trick wird Lacruz' Protagonist zu einer vielschichtigen und widersprüchlichen Figur: wir können ihn abwechselnd von innen und außen wahrnehmen und werden selbst zum Analytiker seiner seelischen Wirrnisse.
David steht nicht zu seinen Gefühlen, weil er dafür seine lebensabstinente Haltung hätte aufgeben müssen. Darin scheint er den großen Gestalten der Fin de Siécle-Literatur verwandt - man fühlt sich erinnert an erschöpfte Habsburger, wie sie Italo Svevo und Robert Musil erfanden.
Lacruz bietet vieles in seinem Roman: Milieustudie, Psychogramm und ein Porträt des großbürgerlichen Kataloniens. Dass die melancholisch-traumverhangene Liebesgeschichte Mitte der fünfziger Jahre als Wegmarke gefeiert wurde, kann man heute nicht mehr ganz nachvollziehen. Aber ein schöner Roman ist Auf Abendwegen allemal.
Rezensiert von Maike Albath
Mario Lacruz: Auf Abendwegen
Aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann
Atrium Verlag Zürich 2007
288 Seiten. 19, 90 Euro.