Pornografie & Literatur

De Sade fände Internetpornos langweilig

Eine Skulptur zum Gedenken an den Adligen und Autor Marquis de Sade (r) vom russischen Künstler Alexandre Bourganov steht vor dem Schloss in Lacoste im Departement Vaucluse in Frankreich, dem Wohnsitz von Marquis des Sade.
Eine Skulptur zum Gedenken an den Adligen und Autor Marquis de Sade vom russischen Künstler Alexandre Bourganov steht vor dem Schloss in Lacoste im Departement Vaucluse in Frankreich, dem Wohnsitz von Marquis des Sade. © dpa/ picture alliance / Jens Kalaene
Von Arno Orzessek  · 02.12.2014
Marquis de Sade gilt als das Schmuddelkind der Weltliteratur, als der große Pornograf. Doch heutige Internetpornos würden de Sade wohl nur müde lächeln lassen, vermutet Arno Orzessek, wollte er doch eine Umwertung aller Werte im Zeichen unstillbarer Begierde.
Machen wir zu de Sades 200. Todestag ein Gedanken-Experiment: Setzen wir den alten Marquis, das obszönste Schmuddelkind der Weltliteratur, vor einen modernen Bildschirm und lassen ihn die Internet-Pornos unserer Tage testen.
Ein paar tausend Klicks nur - und de Sade wüsste: Soweit es um technisch ausgebuffte Praktiken, anatomisch kniffelige Stellungen und spektakuläre Gruppen-Arrangements geht, ist alles zu Filmchen geworden, was er sich in "Die Philosophie im Boudoir", "Die 120 Tage von Sodom" und "Juliette oder die Vorteile des Lasters" so ausgedacht hat - und teils auch im richtigen Leben getestet.
Vermutlich gefiele dem Hardcore-Fetischisten das unendliche Gewimmel stöhnender, kopulierender, ausspritzender, pissender und scheißender Körper richtig gut. Und wer weiß, vielleicht würde er in puncto Sex mit Tieren sogar manches Neue lernen und überhaupt die Variantenvielfalt der Perversionen bestaunen.
Die Pornos gingen dem Marquis nicht weit genug
Aber das wär's dann auch schon mit de Sades Beifall für Internet-Pornos. Er würde nämlich bald bemerken: Da kommt ja weiter nichts, von seltenen, inkriminierten Ausnahmen abgesehen.
Keine echten Vergewaltigungen, keine echten Kinder-Schändungen, keine echten Folterungen, keine Morde als Auslöser schärfster Orgasmen. Nein, fast alle Filmchen halten sich an die Gesetze und an die platten Erwartungen des fröhlich masturbierenden Mainstreams.
In de Sades' Literatur aber ist Sex das Medium, in dem jedes Sittengesetz gebrochen wird. Und zwar jedes. Zumal "Du sollst nicht töten".
"Alle Frauen, die diese Welt bewohnen, zu vernichten, kümmert uns so wenig wie eine Mücke zu zerquetschen", brüsten sich die Schänder in Die 120 Tage von Sodom - und am Ende sind tatsächlich 30 Leute tot.
Litanei der totalen Übertretung
Bei de Sade wird aber nicht nur unentwegt sadomasochistisch kopuliert, geschändet und gemordet - fast noch mehr wird geredet und deklamiert. Dass es keinen Gott gibt, die Kirche lügt, die offizielle Moral knechtet, die Natur das Böse genauso braucht wie das Gute und der Mensch nur als enthemmtes Triebwesen bei sich selbst ist. Eine Litanei der totalen Übertretung, eine Umwertung aller Werte im Zeichen unstillbarer Begierde.
Falls man de Sades Bücher überhaupt als Pornografie lesen kann, handelt es sich um die notorische Kopulation von Sex und heilloser Philosophie. Internet-Pornographie aber ist bloß eine Kopulation von Klischees. Die der Marquis wegen ihrer humanen Harmlosigkeit und geistigen Biederkeit wohl verachten würde.
Kaum nötig zu sagen, dass das eigentlich ganz beruhigend ist.
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