Pompös inszenierter Datendurchfall

Von Stephan Detjen, Chefredakteur Deutschlandfunk · 29.11.2010
WikiLeaks ist das Symptom einer erkrankten Medienwelt - digitaler Durchfall. Eine dubiose Organisation schüttet eine unüberschaubare Flut von Daten über den Globus.
Der Zweck des Unternehmens besteht allein darin, zu beweisen, dass die aus einer vergangenen Epoche hergebrachten Techniken von Politik, Medien und Wissenschaft zur Erzeugung, Weitergabe und Verarbeitung von Informationen unwirksam geworden sind. Eine Viertelmillion vertraulicher Dokumente wurden per Mausklick weltweit zugänglich gemacht. Nur ausgewählte Medien in aller Welt haben vorab Einblick in den Datenwust verhalten. Die Vermarktungsstrategie, mit der die Veröffentlichung begleitet wird, ist ausgeklügelt. Die WikiLeaks-Aktivisten haben bewiesen, dass sie die Mechanismen des traditionellen Nachrichtengeschäfts, die sie mit ihren Aktionen untergraben, zugleich perfekt für sich zu nutzen wissen.

Das Ereignis aber genügt sich vollkommen selbst. Die pure Masse der frei gegebenen Daten ist bis heute der einzig nennenswerte Gehalt des Skandals. Qualität von Information wird durch Quantität ersetzt. Deshalb können auch die Zeitungen und Zeitschriften, die sich mit WikiLeaks zusammengetan haben, heute nicht mehr demonstrieren, als dass sie erst einmal im Meer der Informationen ertrunken, in das sie sich gestürzt haben. Das bombastische Getöse, mit dem die Veröffentlichung der Daten inszeniert wird, entspricht jedenfalls nicht der Substanz an Wissenswertem, die bisher daraus destilliert wurde. Das 50-Mann starke und dennoch überfordert wirkende Rechercheteam des Spiegels verhedderte sich erkennbar im diplomatischem Tratsch der US Botschaft in Berlin. Die Kopfnoten für das politischen Personals der Bundesregierung, die von dort nach Washington geschickt wurden, bestehen aus Banalitäten und Gemeinplätzen. Für mehr als politischen Boulevard taugte die Geschichte, die sich daraus stricken ließ, kaum.

Das bedeutet keineswegs, dass sich in dem gewaltigen Datenkonvolut nicht doch Erkenntnisse verbergen, die von erheblicher Bedeutung sind. Politische Strategien in den Krisenregionen des Nahen Ostens mögen durchkreuzt, Informanten gefährdet, Erklärungen für die Politik der Großmacht USA offenbar werden. Um wirkliche Erkenntnisse zu gewinnen aber bedarf es jener Kulturtechniken, die das WikiLeaks-Verfahren gezielt entwertet: Quellenkritik, Recherche, Gegenrecherche, Vergewisserung. Medien, die ihre Rolle als Verantwortung begreifen, stellen die Verfahren der Gewichtung und Einordnung von Informationen vor den Akt Veröffentlichung. Nicht dass, sondern wie in diesen Tagen Informationen in die Welt gebracht werden, ist deshalb der Skandal.