"Poll"

02.02.2011
In dem Film geht es um die Geschichte einer Jugendlichen am Vorabend des Ersten Weltkrieges, die auf dem Gutshof ihres Vaters einen Anarchisten versteckt.
Deutschland / Österreich / Estland 2010. Regie: Chris Kraus. Darsteller: Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tuisk, Richy Müller, Jeannette Hain u.a. Länge: 129 Minuten

Der Titel des wuchtigen Historiendramas bezieht sich auf ein Landgut in Estland. Die erste Szene zeigt die Ankunft eines jungen Mädchen (Paula Beer), das mit dem Sarg ihrer Mutter 1914 aus Berlin in eine bizarre Szenerie kommt. Die Tote soll auf dem Landgut ihres ehemaligen Ehemannes bestattet werden. Der Ort im baltischen Estland besteht aus ein paar Hütten direkt am Strand, das Herrenhaus selbst ist ein Anwesen auf Stelzen direkt im Wasser. Hier lebt Odas Vater Ebbo von Siering (Edgar Selge) mit neuer Frau (Jeanette Hain) und deren Sohn.

Der Mann ist ein besessener Wissenschaftler, der anhand der Schädel und Gehirne von Toten obskuren Forschungen nachgeht. Allabendlich versammelt sich im Herrenhaus eine nicht nur für Oda, sondern auch den Zuschauern undurchsichtige Gesellschaft aus baltischen Adligen und russischen Generälen, die die politische Lage diskutiert und nebenher musiziert. Die ist kompliziert, denn die deutschen Balten unterstehen dem russischen Zaren und unterdrücken selbst die ansässigen Esten.

Diese für das 14-jährige Mädchen irritierende Welt, zu der sie nie Zugang findet, wird von Regisseur Chris Kraus in deutlicher Überhöhung, durch extreme Kameraeinstellungen, opulente Ausstattung und wuchtigen Soundtrack zum Hintergrund für eine Liebesgeschichte. Nicht nur die Einsamkeit, auch die Neugier, die das junge Mädchen für all das Fremde und Befremdliche um sie herum entwickelt, treibt sie in ein Abenteuer, das sich zur Tragödie entwickelt. Begleitet wird es durch ihre Erzählstimme, die uns die Tagesbucheintragungen aus dieser Zeit nach erleben lässt und die die Großtante des Regisseurs, die Schriftstellerin Oda Schaefer hinterlassen hat.

Denn eines Tages findet Oda einen schwer verwundeten Mann, der sich als russischer Anarchist zu erkennen gibt. Den von ihr "Schnaps" genannten Gefährten versteckt sie auf dem Dachboden des väterlichen Labors und stößt auf eine andere, ihre jugendliche Neugier auf die Welt befriedigende geistige Welt, die ihr die marode adlige Gesellschaft nicht bieten kann. Auf diese Beziehung konzentriert sich im folgenden die Filmerzählung, alles andere gerät immer mehr zur exotischen Staffage.

Das gilt für das Ehedrama der Sierings, das durch das Verhältnis der Ehefrau mit dem Gutsverwalter (Richy Müller) zum Sprengstoff wird, ebenso wie für die dann doch bestürzende Entblößung von Odas Vater als Sadist und die stetige Anwesenheit der Russen, die bei Kriegsausbruch die deutsch-baltischen Adeligen zu Feinden erklären. All die am Anfang aufgemachten Konflikte sind bald nur noch ein wenn auch bildgewaltiges Tableau für die zarte Liebesgeschichte der zwei Außenseiter.

Dank der erstaunlich reifen schauspielerischen Leistung der jungen Hauptdarstellerin Paula Beer gelingt diese zu einer überzeugenden und berührenden Studie jugendlicher Emanzipation, was freilich die Schwächen des letztlich trotz allen Aufwandes doch unbefriedigenden Filmes nicht aufhebt. Zu viel wurde dem Zuschauer am Anfang versprochen, zu wenig eingelöst, das betrifft die zeitgeschichtliche Komponente ebenso wie die Charakterzeichnung aller übrigen Figuren.

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