Politologe: Autoritäre Elemente gewinnen in Ungarn an Bedeutung

Zoltán Kisszelly im Gespräch mit Marcus Pindur |
Der ungarische Politikwissenschaftler Zoltan Kisszely erwartet nicht, dass es nach dem Sieg der nationalkonservativen Fidesz-Partei bei den Parlamentswahlen in Ungarn zu einer Veränderung des politischen Systems kommen wird. Er glaube nicht, dass der neue Regierungschef Viktor Orban eine Präsidialdemokratie nach russischem Muster schaffen werde, sagte Kisszely.
Marcus Pindur: Das war der zweite Wahlgang der Parlamentswahl in Ungarn, und jetzt ist klar, was viele erwartet hatten: Die konservative Fidesz-Partei hat eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Das heißt, der nächste Ministerpräsident heißt Viktor Orbán. Nicht so richtig klar ist allerdings, was er mit seiner Mehrheit anfangen will, und wir sprechen jetzt mit dem ungarischen Politikwissenschaftler Zoltán Kisszelly in Budapest. Guten Morgen, Herr Kisszelly!

Zoltán Kisszelly: Guten Morgen nach Berlin!

Pindur: Viktor Orbán, der ja schon einmal bis 2002 Ministerpräsident war, der sprach gestern Abend in Budapest von einem Systemsturz. Was genau hat er denn vor?

Kisszelly: Er stellte die letzten acht Jahre der linksliberalen Regierungszeit in Kontrast zu seiner neuen Zeit, die er jetzt verspricht, die jetzt anbricht. Er sagte, in der letzten Zeit waren zwar vielleicht das Eigeninteresse, eine Oligarchie entstanden, und er möchte jetzt eine andere Zeit, er verspricht jetzt eine andere Zeit, in der jetzt wie nach seiner Hoffnung die Mehrheit davon, von der Politik profitieren kann. Also dieses System, was er als Oligarchensystem ansieht, das geht jetzt zu Ende nach seinem Dafürhalten, und ein anderes System eines good governments soll anbrechen.

Pindur: Eine Zweidrittelmehrheit, das ist ja beeindruckend. Aber auch Orbán muss sich zunächst einmal den ganz profanen Problemen stellen, nämlich einer der höchsten Arbeitslosenraten in der EU. Weiß man denn, wie Orbán dieses Problem angehen will?

Kisszelly: Es ist wirklich ein schwieriges Problem. Das Problem, das hilft nicht nur den östlichen Randgebieten, nordöstlichen Randgebieten, wo die Arbeitslosigkeit insbesondere unter den Roma und Sinti 30 Prozent beträgt, sondern auch in den hoch entwickelten Industrieregionen des mittleren Landesteiles und des westlichen, wo die Wirtschaftskrise auch Zuliefererbetriebe getroffen hat.

Sie erholen sich jetzt in dem Maße, wie sich Westeuropa - insbesondere Deutschland, Österreich und Frankreich, die größten Aufnahmemärkte Ungarns - erholen. Also das ist vielleicht eine Lösung, wenn sich die Aufnahmemärkte Ungarns erholen in Westeuropa, dann kann auch die ungarische Industrie nachziehen.

Ein zweites Modell wäre die sogenannte öffentliche Beschäftigung: Es ist auch geplant, dass viele Leute, auch niedrig ausgebildete Leute, Leute mit geringer Qualifikation zum Beispiel in öffentlicher Beschäftigung teilnehmen, nicht nur, indem sie zum Beispiel dann Abwassergruben säubern oder Straßen kehren, sondern auch indem sie zum Beispiel ihre eigenen Gärten bestellen und dafür Sozialhilfe bekommen.

Pindur: Die Staatsverschuldung liegt in Ungarn auch sehr hoch, bei 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Nur zum Vergleich: Der europäische Wirtschafts- und Stabilitätspakt lässt maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu. Da wird Orbán nur begrenzte Mittel haben für öffentliche Beschäftigungsprogramme.

Kisszelly: Ja, das stimmt. Aber unter seiner letzten Regierungszeit gelang es schon seiner Regierung, diese Verschuldung auf 53 Prozent herunterzufahren. Das war 2002 und seitdem ist dieser Zuwachs entstanden. Es ist wirklich sehr schwer, aber da ist die bequeme Mehrheit von zwei Dritteln sehr gut, denn Sie können ihr Programm verwirklichen.

Und es ist nur für Herbst eine Kommunalwahl vorgesehen, das heißt nach der Kommunalwahl im Oktober hat die Regierung dreieinhalb Jahre Zeit, auch unpopuläre Maßnahmen durchzuführen, also ohne politischen Preis dafür zu bezahlen. Die Verhandlungen mit dem IMF sind im Gange, die ausgehende Regierung hat ein Haushaltsdefizit von 3,9 bis 4 Prozent ausgehandelt, das ist im Budget. Aber die Fidesz-Regierung möchte 5 Prozent, 5,5 Prozent auch ansteuern, und vielleicht hat der IMF Verständnis dafür, das kann einen kleinen Puffer für dieses Jahr geben.

Pindur: Also diese Zweidrittelmehrheit beschert der Regierung einen großen Handlungsspielraum. Es gibt aber auch Beobachter, die befürchten, dass Orbán so eine Art Präsidialdemokratie nach russischem Muster in Ungarn schaffen will. Halten Sie das für wahrscheinlich?

Kisszelly: Ja, mit Zweidrittelmehrheit kann man in Ungarn die Verfassung ändern und es gibt keine Gegengewichte wie zum Beispiel in Deutschland den Bundesrat, welcher einer Grundgesetzänderung zustimmen muss. Also in Ungarn kann man mit einer simplen Parlamentszweidrittelmehrheit alle Gesetze, so auch die Verfassung, ändern, welches zu einem Wechsel des Regierungssystems führen kann.

Ich denke nicht, dass wir ein anderes politisches System haben werden, zum Beispiel eine Präsidialdemokratie, Präsidialdemokratie nach französischem oder russischem Vorbild. Ich denke schon aber, dass es einer Regierung kommt, in welcher Autorität eine größere Rolle spielt. Es ist vorgesehen, zum Beispiel die Zahl der Ministerien nach britischem Vorbild auf sieben bis acht zu reduzieren; es sollen Spitzenministerien entstehen, und Fachgebiete sollen diesen Spitzenministerien als Staatssekretariate untergeordnet werden. Also das soll die Effizienz erhöhen, aber natürlich können da Interpellationen im Parlament dann vielleicht auch zu kurz kommen, aber kein Umsteuern des politischen Systems, aber autoritäre Elemente, also Elemente, welche Autorität bedeuten, werden an Bedeutung zunehmen.
Pindur: Lassen Sie uns zum Schluss noch über ein anderes Phänomen reden, das aus dem Ausland mit einiger Sorge gesehen wird, nämlich die rechtsextreme Jobbik-Partei, die hauptsächlich mit feindseligen Parolen gegenüber den Roma sich hervorgetan hat. Wie bewerten Sie deren Abschneiden?

Kisszelly: Wir haben schon auch darüber gesprochen, auch im Deutschlandradio, dass Jobbik ist ein Phänomen, welches es auch in Westeuropa gibt: Sie haben ungefähr 400.000 bis 500.000 Stammwähler und ungefähr genau so viele Protestwähler. Wenn die Regierung gut arbeitet, die nächste Regierung, und öffentliche Sicherheit und das Schulwesen in Nordostungarn sich gut entwickeln, dann werden die Protestwähler mit der Zeit von Jobbik Abschied nehmen.

Das heißt, diese Partei wird einer mittleren Partei von ungefähr 15 Prozent bei einer guten Regierungsarbeit auf ungefähr fünf bis sieben Prozent schrumpfen. Das heißt, es ist ein einmaliges Phänomen jetzt, dass diese Partei so stark ist. Die Leute sind sehr unzufrieden mit der öffentlichen Sicherheit und mit der Qualität der Schulbildung.

Es bleibt abzuwarten, wie sie bei der Herbstwahl abschneiden, bei der zweiten Runde gestern haben sie sehr schlecht abgeschnitten, unter zehn Prozent - bei der Wahl vor zwei Wochen waren sie meistens über zwölf bis 15 Prozent. Also Jobbik ist ein ... Also die Frage ist, ist das ein einmaliges Phänomen oder bleiben die Protestwähler bei Jobbik oder gehen sie anderen Parteien zu?

Pindur: Vielen Dank für diese Einschätzungen! Der Politikwissenschaftler Zoltán Kisszelly mit einer Analyse der Situation nach den Wahlen in Ungarn.