Politisierung des Denkens

„Unglaubliche Verengung auf Vorwürfe“

35:58 Minuten
Illustration von zwei weit geöffnete Münder und Zungen in Form von Fäusten.
Nicht nur auf Twitter heißt es immer öfter: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Das Denken braucht aber Freiräume, in denen es nicht Partei ergreifen muss, sagt Andrea Roedig. © Getty Images / iStock
Andrea Roedig und Philipp Felsch im Gespräch mit Catherine Newmark · 21.11.2021
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Ob Gender, Migration oder Corona: In den Debatten steigt der Druck, sich auf eine Seite zu schlagen. So gespalten die Gesellschaft, so politisiert scheint das Denken. Woher kommt das? Und wie damit umgehen?
Ob in Gender- oder Rassismusdebatten, bei Klima- oder Coronamaßnahmen: Die Stimmung ist aufgeheizt, die rhetorischen Waffen sind scharf. Wer versucht, zwischen verhärteten Fronten zu vermitteln, hat es oft schwer. Denn jede noch so zögerliche Äußerung wird sofort einem Lager zugeschlagen. Der Raum, um über die Sache selbst noch ergebnisoffen nachzudenken, ist so schwer zu finden. Nicht nur die Gesellschaft, auch das Denken selbst scheint zunehmend polarisiert und politisiert.

Verengung des Denkens

Eine intellektuelle „Verengung“ sieht jedenfalls die Philosophin und Publizistin Andrea Roedig und nennt ein Extrembeispiel aus der Universität: Als sie mit den Studierenden einen Text von Ludwig Wittgenstein lesen wollte – ein Text aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, habe man ihr entgegengehalten: „Der gendert nicht, sowas würde ich gar nicht mehr lesen.“ Roedig gendert selbst – aber ob ein Text gegendert ist, sollte ihrer Meinung nach kein Kriterium dafür werden, ihn zu lesen oder nicht: „Mir scheint es im Moment eine unglaubliche Verengung auf diese Vorwürfe zu geben.“
Porträt der Publizistin Andrea Roedig.
Die Philosophin und Publizistin Andrea Roedig.© Elfie Miklautz
Aber auch außerhalb der Universität erkennt Roedig einen Druck auf das Denken in Richtung konkreter politischer Stellungnahmen: „Es gibt so eine Tendenz, das Abstrakte erst mal zu diskreditieren.“
Das bestätigt auch der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch: „Wer ein Buch über irgendetwas schreibt, was gar nichts mit Aktualitätsthemen zu tun hat, selbst in der Philosophie, muss sich tendenziell im Vorwort entschuldigen.“

Der Sog des Politischen ist auch heilsam

In diesem Sog zum Aktuellen und Konkreten liege eine Einengung des intellektuellen Freiraums, den gerade das Abstrakte bieten könne, so Roedig – und der die Philosophie traditionell ausmacht, wie Felsch betont: „Wer diesen Gestus des Zurücktretens und im Elfenbeinturm Nachdenkens suspendieren möchte, der löst eigentlich die Idee der Philosophie auf.“
Philipp Felsch auf der Bühne von Deutschlandfunk Kultur auf der Leipziger Buchmesse.
Der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch auf der Bühne von Deutschlandradio Kultur auf der Leipziger Buchmesse.© Deutschlandradio - Andreas Buron
Allerdings sieht Felsch darin durchaus auch eine „heilsame Irritation“ für die Geisteswissenschaften, denn die müssten sich „jetzt noch zweimal mehr Gedanken machen, was man da eigentlich tut und ob das irgendwen interessiert“. Zudem sei das Ideal der philosophischen „Gelassenheit“ und distanzierten Betrachtung schon seit dem frühen 20. Jahrhundert unter Beschuss – von rechts, etwa durch Carl Schmitt, wie von links, etwa in Gestalt der Kritischen Theorie.
„Ähnlich aufgeheizt war das zur Zeit der Studentenbewegung und danach“, betont auch Andrea Roedig. „Es gibt immer Phasen, die politischer sind als andere."

Das Denken braucht Freiräume

Nicht zuletzt sei auch die Berufung auf eine reine, unpolitische Philosophie selbst ein politisches Statement, so Felsch: „Wer heute Philosophie sagt, beansprucht eigentlich objektiv zu sein – und das wird schon seit dem 19. Jahrhundert entlarvt als auch eine politische Position: eine Position der Naturalisierung, der Bürgerlichkeit, die den Status quo legitimieren will.“ Das sei auch in Ordnung, solange für „verschiedene Denkgesten“ Platz sei.
Dafür aber braucht es Freiräume, in denen das Denken von der politischen Parteinahme befreit ist. Die Universität soll eigentlich so ein Freiraum sein, betont Roedig. Um ihn zu erhalten, gelte es, „den Horizont zu weiten und wieder ambivalenztoleranter zu werden“.
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