Politische Zeichensetzung und andere linguistische Leichen
Politik verstehen - gerade in einer Demokratie wäre das erstrebenswert. Allerdings lassen Formulierungen wie "Politik der kleinen Schritte", "mit Augenmaß" oder "Zeichen setzen" zu wünschen übrig, verschleiern, verschwurbeln und vernebeln tatsächliche Sachverhalte, meint Rolf Schneider.
Gegenwärtig wird unentwegt ein Zeichen gesetzt. Bundeskanzlerin Merkel ließ sich neulich so vernehmen, als sie vom Fiskalpakt sprach. Auch andere benutzen diese Metapher. Das Zeichensetzen erfolgt quer durch das politische Spektrum und findet noch in anderen öffentlichen Mitteilungen statt.
Man sieht, wenn man dergleichen vernimmt, vor sich ein unerschlossenes Gelände, auf dem ein paar Signalpfähle stehen. Doch Pfähle werden gesteckt. Zeichen im öffentlichen Raum, wie Verkehrsschilder, werden aufgestellt. Der einzige Bereich, in dem man Zeichen setzt, ist die Orthografie. Zeichensetzung oder Interpunktion quälen Deutschschüler, denen das richtige Setzen des Kommas Probleme bereitet. Die Bundeskanzlerin hat im Wortsinn mitgeteilt, dass der Fiskalpakt für sie eine Art geldpolitisches Komma sei. Was vielleicht der Wirklichkeit entspricht, doch nicht das ist, was die Bundeskanzlerin uns glauben machen möchte.
Sprachbilder sind generell beliebt, gleichgültig ob sie stimmen oder nicht. Rückblickend erkennen wir ein ganzes Gräberfeld linguistischer Leichen. Dort ruht zum Beispiel die Kante, auf die mal genäht, mal gezeigt wurde, wenn sie denn klar war, wie immer eine klare Kante aussehen mag.
Dann gab es Vorlieben für bestimmte Arten der menschlichen Fortbewegung: die Politik der kleinen Schritte, den Schritt in die richtige Richtung. Derzeit bewegen sich die Metaphern von den Füßen des Menschen empor zu dessen Sehorganen.
Da gibt es das Augenmaß. Es soll als Messverfahren bei bestimmten Vorgängen dienen, etwa dem Ausstieg aus der Kernenergie. Gemeint ist damit: kontrolliert und bedacht. Dabei ist das reale Augenmaß ungefähr und volatil. Genau und überprüfbar sind Zollstock, Bandmaß und Stoppuhr.
Dann gibt es die Augenhöhe, auf der man einander begegnen möchte. Gemeint ist freilich: auf gleicher Augenhöhe. Im realen Leben hängt die Augenhöhe ab von der Körpergröße. Ist sie bei zwei Beteiligten unterschiedlich, muss der größere sich bücken oder der kleinere sich strecken. Beide Vorstellungen sind nicht ohne Komik, und wie man dabei verhandeln will, lässt sich kaum ausdenken.
Die Metapher stammt aus den Zuständen des Feudalismus, wo jemand, im Stande geringer, mit einem höher Gestellten gleichziehen wollte, weswegen er sich aus seiner bisher gebückten Haltung aufrichtete und dem auf einem erhöhten Sessel Thronenden direkt ins Gesicht sah. Oder er zwang diesen von seinem Thron herab und saß ihm am Verhandlungstisch direkt gegenüber. Symbolische Gesten waren im feudalistischen Mittelalter so wichtig wie das, wofür sie standen. Heute leben wir nicht mehr im Mittelalter und im Feudalismus auch nicht mehr.
Vielmehr leben wir in der Demokratie. Für die beharrliche Verwendung von vordemokratischen Metaphern ist das kein Hindernis. Etwa wenn wir hören, dass sich eine Partei gut aufgestellt habe oder sich neu aufstellen werde. Das Sprachbild entstammt der Militärtechnik, als Heere noch in geschlossenen Formationen aufeinander trafen und die Aufstellung über Sieg und Niederlage in der Schlacht entschied. Solche Art der Kriegsführung ist vorüber. Heute stellen sich nur noch die Spieler von Mannschaftssportarten auf.
Doch Politik als urtümliche Schlachtordnung oder als Fußballmatch ist ein etwas lächerlicher Vorgang.
Die derzeit meistgebrauchte Wendung ist die Glaubwürdigkeit. Der Begriff kommt aus der Gerichtspraxis, wo ein Zeuge und sein Zeugnis glaubwürdig sein können oder nicht. Glaubwürdig bedeutet hier: nicht eindeutig verifizierbar. Glaube ist nicht Wissen. Glaube ist spirituelle Annäherung, bevorzugter Raum des Glaubens ist die Religion. Muss ich einem Politiker glauben? Ist ein Politiker Gott? Er wäre es vielleicht gern, ist aber bloß ein fehlbarer Apparatschik, auf dessen Fähigkeiten ich vertrauen kann oder nicht. Glaubwürdigkeit bedeutet Vertrauenswürdigkeit. Glaubwürdigkeit ist, recht besehen: Blasphemie. Die Unionsparteien mit ihrem christlichen Namen sollten darüber nachdenken.
Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen ‘groben Verstoßes gegen das Statut’ wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.
Man sieht, wenn man dergleichen vernimmt, vor sich ein unerschlossenes Gelände, auf dem ein paar Signalpfähle stehen. Doch Pfähle werden gesteckt. Zeichen im öffentlichen Raum, wie Verkehrsschilder, werden aufgestellt. Der einzige Bereich, in dem man Zeichen setzt, ist die Orthografie. Zeichensetzung oder Interpunktion quälen Deutschschüler, denen das richtige Setzen des Kommas Probleme bereitet. Die Bundeskanzlerin hat im Wortsinn mitgeteilt, dass der Fiskalpakt für sie eine Art geldpolitisches Komma sei. Was vielleicht der Wirklichkeit entspricht, doch nicht das ist, was die Bundeskanzlerin uns glauben machen möchte.
Sprachbilder sind generell beliebt, gleichgültig ob sie stimmen oder nicht. Rückblickend erkennen wir ein ganzes Gräberfeld linguistischer Leichen. Dort ruht zum Beispiel die Kante, auf die mal genäht, mal gezeigt wurde, wenn sie denn klar war, wie immer eine klare Kante aussehen mag.
Dann gab es Vorlieben für bestimmte Arten der menschlichen Fortbewegung: die Politik der kleinen Schritte, den Schritt in die richtige Richtung. Derzeit bewegen sich die Metaphern von den Füßen des Menschen empor zu dessen Sehorganen.
Da gibt es das Augenmaß. Es soll als Messverfahren bei bestimmten Vorgängen dienen, etwa dem Ausstieg aus der Kernenergie. Gemeint ist damit: kontrolliert und bedacht. Dabei ist das reale Augenmaß ungefähr und volatil. Genau und überprüfbar sind Zollstock, Bandmaß und Stoppuhr.
Dann gibt es die Augenhöhe, auf der man einander begegnen möchte. Gemeint ist freilich: auf gleicher Augenhöhe. Im realen Leben hängt die Augenhöhe ab von der Körpergröße. Ist sie bei zwei Beteiligten unterschiedlich, muss der größere sich bücken oder der kleinere sich strecken. Beide Vorstellungen sind nicht ohne Komik, und wie man dabei verhandeln will, lässt sich kaum ausdenken.
Die Metapher stammt aus den Zuständen des Feudalismus, wo jemand, im Stande geringer, mit einem höher Gestellten gleichziehen wollte, weswegen er sich aus seiner bisher gebückten Haltung aufrichtete und dem auf einem erhöhten Sessel Thronenden direkt ins Gesicht sah. Oder er zwang diesen von seinem Thron herab und saß ihm am Verhandlungstisch direkt gegenüber. Symbolische Gesten waren im feudalistischen Mittelalter so wichtig wie das, wofür sie standen. Heute leben wir nicht mehr im Mittelalter und im Feudalismus auch nicht mehr.
Vielmehr leben wir in der Demokratie. Für die beharrliche Verwendung von vordemokratischen Metaphern ist das kein Hindernis. Etwa wenn wir hören, dass sich eine Partei gut aufgestellt habe oder sich neu aufstellen werde. Das Sprachbild entstammt der Militärtechnik, als Heere noch in geschlossenen Formationen aufeinander trafen und die Aufstellung über Sieg und Niederlage in der Schlacht entschied. Solche Art der Kriegsführung ist vorüber. Heute stellen sich nur noch die Spieler von Mannschaftssportarten auf.
Doch Politik als urtümliche Schlachtordnung oder als Fußballmatch ist ein etwas lächerlicher Vorgang.
Die derzeit meistgebrauchte Wendung ist die Glaubwürdigkeit. Der Begriff kommt aus der Gerichtspraxis, wo ein Zeuge und sein Zeugnis glaubwürdig sein können oder nicht. Glaubwürdig bedeutet hier: nicht eindeutig verifizierbar. Glaube ist nicht Wissen. Glaube ist spirituelle Annäherung, bevorzugter Raum des Glaubens ist die Religion. Muss ich einem Politiker glauben? Ist ein Politiker Gott? Er wäre es vielleicht gern, ist aber bloß ein fehlbarer Apparatschik, auf dessen Fähigkeiten ich vertrauen kann oder nicht. Glaubwürdigkeit bedeutet Vertrauenswürdigkeit. Glaubwürdigkeit ist, recht besehen: Blasphemie. Die Unionsparteien mit ihrem christlichen Namen sollten darüber nachdenken.
Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen ‘groben Verstoßes gegen das Statut’ wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.

Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist© Therese Schneider