Politische Träume

Die Entzauberung der Welt

Nach einem Selbstmord-Bombenanschlag durch fünf Talibankämpfer auf ein Polizei-Hauptquartier in Kundus in Afghanistan am 10.02.2015 steigt über einer Straße mit Militärfahrzeugen eine Rauchwolke auf.
Rauchwolke eines Selbstmord-Bombenanschlags durch fünf Talibankämpfer auf ein Polizei-Hauptquartier in Kundus in Afghanistan am 10.02.2015 © picture alliance / dpa / Jawed Karger
Von Uwe Bock · 15.04.2016
Sehnsuchtsländer aus alten Zeiten sind zu Krisenherden geworden. Die schwärmerischen Reiseberichte vom Orient zum Beispiel haben an Bedeutung verloren, sie scheinen von der Realität eingeholt zu sein. Der Journalist Uwe Bork bedauert das.
Ist es Ihnen auch aufgefallen? Wir sind ärmer geworden. Ärmer nicht in einem materiellen Sinn, ärmer aber sehr wohl in Bezug auf das, was man für Geld nicht kaufen kann. In unseren Köpfen sind einige Bilder verschwunden, Bilder, die unsere Phantasie lange beschäftigt haben.
Über Jahrhunderte hinweg konnten wir Europäer ins Träumen geraten, wenn nur Worte fielen wie "das Morgenland", "der schwarze Kontinent" oder "das Reich der Mitte". Da klangen ungelöste Geheimnisse mit, tollkühne Abenteuer und oft genug auch intime Versprechungen raffinierter Erotik.

Mythen taugen nur, wenn sie weit weg sind

Und heute? Alles per du. Nichts mehr mit Poesie und Romantik! Das Morgenland scheint plötzlich vornehmlich Terror und Gewalt zu exportieren, der Kontinent Afrika beherrscht die Schlagzeilen vor allem mit Krankheiten und Katastrophen und das Riesenreich China hat sich zu einem ökonomischen Global Player entwickelt, der von Demokratie und Menschenrechten nichts hält.
Auch die edlen Wilden sind verschwunden. Nicht mehr auffindbar in den Echt-Zeit-Updates der diversen Nachrichtenkanäle. Als mythische Naturmenschen taugten sie offensichtlich nur so lange zum Urbild einer unverdorbenen Existenz, wie sie fern von den Verführungen jeglicher Zivilisation anspruchslos durch artenreiche Wälder streiften. Seit immer mehr dieser unwirklichen Wesen nun aber ganz wirklich vor unseren Haustüren stehen und von uns die Einlösung unserer humanen Versprechungen einfordern, sehen sich viele Abendländler durch solchen Zustrom eher bedroht als bereichert.

Geistiger Kollateralschaden der Globalisierung

Ferne Paradiese und glückliche Völker: Beides scheint es nicht mehr zu geben. Wie damals, als nach christlicher Überlieferung Adam und Eva in die Frucht vom Baum der Erkenntnis bissen und dieser Biss ihnen die Augen öffnete, scheinen auch wir Kinder von Aufklärung und Moderne die Magie und den Zauber unserer Welt nicht mehr erkennen zu können.
Die Ursache dieses Verlusts ist leicht zu benennen. Dass die Wahrnehmung unserer Welt einige ihrer Dimensionen verloren hat, kann man getrost als Ergebnis einer Globalisierung der Gewalt betrachten. Darüber hinaus ist es ohne Zweifel aber auch ein nicht zu unterschätzender Kollateralschaden der Globalisierung von Ökonomie und Politik: Wenn das Streben nach Profit auf das Bedürfnis nach Poesie trifft, ist es in aller Regel die Poesie, die leblos vom Platz getragen wird.

Ein letzter Blick aus dem Elfenbeinturm

Überzeugte Pragmatiker mögen argumentieren, das sei gut so. Endlich werde unser Denken in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gebracht, und das sei letzthin eine wesentliche Voraussetzung zu ihrer Bewältigung. Überlegenheit habe schließlich seit je etwas mit Überlegung zu tun.
Richtig, antworte ich darauf aus einem der wenigen noch bewohnbaren Zimmer meines privaten Elfenbeinturms. Ihr habt recht. Nur mit Gefühlen und Träumereien ist heute kein Staat mehr zu machen, – oder allenfalls noch einer, der von Fundamentalisten beherrscht wird.

Es fehlt: die politische Alternative

Und dennoch. Dennoch sollten wir weiter von so etwas Geheimnisvollem wie dem Morgenland, dem tiefschwarzen Kontinent oder meinetwegen auch dem Reich der Mitte träumen. All das sind ja nur Chiffren, Chiffren für die Möglichkeit, dass unsere Welt auch ganz anders sein könnte. Eine Alternative zum Bestehenden, nicht nur seine lineare Fortentwicklung.
Die Bilder in unseren Köpfen regen unsere Phantasie an. Wir alle brauchen diese Anregungen dringend, denn unsere Welt scheint gegenwärtig in einem Zustand, bei dem uns jede Idee zu ihrer Veränderung willkommen sein müsste.

Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Soziologie, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Verfassungsgeschichte, Pädagogik und Publizistik. Bork arbeitete als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Stuttgarter Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft‘ des SWR. Für seine Arbeiten wurde er mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet.

Der Fernsehjournalist Uwe Bork
© privat
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