Politische Metaphorik

Der Frühling ist ein Revolutionär

Blühendes Rapsfeld vor einer Kastanienallee
Blühendes Rapsfeld vor einer Kastanienallee © imago/nordpool/Tumm
Von Wolfram Eilenberger · 19.04.2018
Der Frühling ist politischer als wir annehmen, verfügt er doch über eine außergewöhnliche metaphorische Kraft. Der Frühling lehre die Despoten das Fürchten, meint der Philosoph Wolfram Eilenberger. Denn noch keine "Koalition aus Herbst und Winter" habe je das Knospen unterdrücken können.
Sehen Sie doch nur mal aus dem Fenster. Und da haben Sie den Beweis: Eine andere Welt ist möglich! Auf einen Schlag sieht die Wirklichkeit gewandelt aus. Buchstäblich über Nacht gewann der graue Alltag an Farbe und Bedeutung. Wildfremde Menschen lächeln sich scheinbar grundlos an, andere pfeifen glücksversonnen vor sich hin. Sinn und Freude, wohin man schaut. Zukunftstrunken drängt alles ins Offene und ans Licht, sucht Kontakt, kreativen Austausch, neue Befruchtung!
Fürwahr, wenn es eine Jahreszeit auf diesem Erdball gibt, vor der sich jeder Despot und Diktator – ja sogar jede Form falsch versprochener Stabilität –, mit Recht fürchten wird, so ist es der Frühling. Sind es jene magischen Tage natürlicher Explosivität, die noch den Dumpfsten und Zynischsten unter uns eine konkrete Vorstellung davon geben, dass in Wahrheit nichts so bleiben muss, wie es ist. Dass keine noch so große Koalition aus Herbst und Winter den Umbruch letztlich verhindern werden! Dass kein gemäßer Trieb auf ewig unterdrückt werden kann! Der Frühling ist ein Revolutionär.

"Kalter Krieg" und "Eiszeiten"

Nur allzu verständlich, dass die politische Metaphorik in unseren Breiten tief jahreszeitlich geprägt ist. Zustände der bedrohlichen Stagnation werden von je mit dem Winter verbunden, wie etwa im "Kalten Krieg" oder jeweiligen "Eiszeiten". Revolutionäre Bewegungen hingegen wussten sich stets ins poetische Gewand des Frühlings zu kleiden, sei es bei Maos "Lasst tausend Blumen blühen" oder aber der Flower-Power-Diktion der 68er.
Doch vermag Sprache auch in diesem Fall nur sinnvoll zu vermitteln, was jeder von uns dieser Tage mit geradezu tiernaher Gewissheit am eigenen Leibe erfährt: Stagnation ist immer künstlich und eng. Allein momenthaftes Werden ist wahrhaft frei. Deshalb: Brüder, zur Sonne, zur Freiheit: Reiht euch ein in die große, allesverbindende Kette der Wesen!

Staunen über den Sonnenaufgang

Denn nicht zuletzt dies hätte uns eine richtig verstandene – und damit immer auch konservativ demütige – Politik des Frühlings bis heute zu lehren: Was als wahrer Aufbruch wirken will, bleibt auf Kräfte verwiesen, die die Sphäre des menschlichen Wollens notwendig übersteigen. Und zwar nicht nur im rein ökologischen Sinne, wie ihn das ebenso unscheinbare und wie unersetzliche Wirken etwa der Bienen und Insekten verbürgt. Nein, selbst solch erdnahe Ganzheitlichkeit bleibt hier noch zu eng und klein gedacht. Vielmehr gilt es im Angesicht des Frühlings, die Perspektive geradezu kosmisch zu weiten. Schließlich vermag kein uns bekanntes Wesen und vielleicht nicht einmal ein Gott die Sonne jeden Tag wieder auf ihre lebensspendende Bahn zu zwingen.
Ob sie auch morgen wieder für uns aufgehen wird? Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. Wir können es als endliche Erdlinge allenfalls vernünftig erhoffen. Und das alltägliche Wunder dann gegebenenfalls dankbar konstatieren.
Mit anderen Worten: Kein Ereignis, das unserem Leben wirklich Sinn, Halt und Freude verleiht, wird allein von uns Menschen gewirkt. Es muss immer noch etwas hinzukommen, was ganz außerhalb unserer Steuerungsmacht liegt. Schauen Sie doch nur mal aus dem Fenster. Und da haben Sie den Beweis. Vor allem aber: Hüten Sie sich vor jedem Revoluzzer, der Ihnen anderes weismachen will!
Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Publizist und Programmleiter beim Verlag Nicolai Publishing & Intelligence. Im März erschien sein Buch "Zeit der Zauberer – Das große Jahrzehnt der Philosophie (1919-1929)" bei Klett-Cotta.
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