Politische Elite

Das schmale Rückgrat der Republik

04:27 Minuten
Bundestagsabgeordnete geben im Bundestag im Februar 2019 ihre Stimmkarte bei einer namentlichen Abstimmungab.
Die 700 Abgeordneten des Bundestages sind nicht gerade repräsentativ für die rund zwei Drittel der Bürger, die sich grundlegende Reformen wünschen, sagt Mathias Greffrath. © picture alliance/dpa/Foto: Kay Nietfeld
Ein Kommentar von Mathias Greffrath · 12.03.2019
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Verschwörungstheoretikern ist klar: Das Land wird von einer Elite gesteuert und die Mehrheit macht mehr oder weniger mit. Das ist nicht ganz falsch, meint der Publizist Mathias Greffrath, der nachgerechnet hat, aber zu anderen Ergebnissen kommt.
Das Parlament – nichts als eine Demokratiesimulation, in der Systemparteien sich, von Machtgier und Interessen getrieben, über das Volk und seinen Willen hinwegsetzen: das ist das verzerrte Bild der repräsentativen Demokratie, wie die AfD es zeichnet. Aber Vorsicht: Man muss kein völkischer Populist sein, um an der Repräsentativität unserer Demokratie zu zweifeln.

200.000 sind das Rückgrat der Republik

Ein wenig politische Arithmetik: Von rund 60 Millionen Wahlberechtigten sind eine Million Mitglieder einer der im Bundestag vertretenen Parteien. Von dieser Million zählen nur etwa 20 Prozent zu den – so nennen es die Parteienforscher – "ämterorientierten Aktiven". Aus dem Netzwerk dieser Zweihunderttausend rekrutieren sich nicht nur viele Direktoren und Abteilungsleiter kommunaler Unternehmen, Aufsichtsräte von Krankenkassen, Sparkassen und Rundfunkräte.
Darüber hinaus sind es diese 200.000 politisch aktiven Parteimitglieder, die darüber entscheiden, wer in den Parlamenten des Landes sitzt – und so ist es kein Wunder, dass rund die Hälfte der Sitze des Bundestags von Angehörigen des Öffentlichen Dienstes und politischer Organisationen besetzt wird. Nur 200.000, die sozusagen das Rückgrat der Republik sind.

Machtversessen und machtvergessen?

Nicht nur die Politische Soziologie redet deshalb schon lange von Postdemokratie und von Kartellparteien. War es nicht ein Bundespräsident namens Richard von Weizsäcker, der vor mehr als zwei Jahrzehnten schon davon sprach, dass die Parteien machtversessen und machtvergessen seien, einen "völlig beherrschenden Einfluß" auf alle Verfassungsorgane hätten, hat er nicht ein Versagen der "Demoskopie-Demokraten" vor den Herausforderungen der Zeit kritisiert?
Aber billiger Volkszorn à la Gauland hilft nicht weiter. Denn ohne Parteien, die Meinungen bündeln – "an der Meinungsbildung mitwirken", wie es das Grundgesetz sagt – kann man sich eine moderne Demokratie nicht vorstellen. Aber irgendetwas läuft furchtbar schief, wenn die Dramaturgie der Wahlkämpfe die politischen Programmatiken überlagert.
Die Klimakrise, der Pflegenotstand, die anstehende Völkerwanderung, die Folgen der Computerrevolution, die Bildungsmisere, das Artensterben – dies alles ist nicht durch das Drehen an kleinen Rädern zu bewältigen; es erfordert strukturelle Veränderungen. Aber die Logik des politischen Wettbewerbs macht Strukturveränderungen fast unmöglich.

Volksabstimmungs-Demokratie ist kein Ausweg

Er sei gegen die plebiszitäre Demokratie, sagte kürzlich Wolfgang Schäuble: denn das Volk sei "leicht manipulierbar und verführbar", während Abgeordnete "ein hohes Maß an Verantwortung hätten, gut informiert seien, und lange diskutierten, bevor sie entscheiden". Das ist pauschal, volksverachtend und geht schönrednerisch an den Realitäten des real existierenden Parlamentarismus vorbei.
Überdies sind die 700 Abgeordneten des Bundestages nicht gerade repräsentativ für die rund zwei Drittel der Bürger, die sich angesichts von Klimawandel, Wohnungsnot und Schuldenkrise in Umfragen regelmäßig grundlegende Reformen wünschen. Und schon gar nicht für die Generation Greta Thunberg, die das alles wird ausbaden müssen.

Effektiver wäre eine Änderung des Parteiengesetzes

Dennoch: die Volksabstimmungs-Demokratie ist kein Ausweg aus der Krise des Parlamentarismus; schon deshalb nicht, weil die komplexen Probleme der Zukunftssicherung kaum auf Ja oder Nein abzubilden sind. Effektiver wäre eher eine Änderung des Parteiengesetzes mit dem Ziel, die Selbstabschließungstendenz der politischen Klasse aufzulockern, die oligarchischen Parteistrukturen und den Fraktionszwang abzumildern, den Bürgern mehr Rechte bei der Kandidatenauswahl für die Parlamente zu geben.
Solche Veränderungen bedürften nicht einmal einer Verfassungsänderung. Unwahrscheinlich sind sie dennoch. Deshalb gilt letztlich der Satz von Al Gore: Sagen Sie Ihrem Abgeordneten, was er tun soll; sagen sie es so laut, dass er es hört; wenn er es dennoch nicht tut, wählen sie ihn ab, und wenn der nächste es auch nicht tut, dann kandidieren Sie selbst.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für "Die Zeit", die taz und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen unter anderem: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?".

Der Publizist Mathias
© imago/Horst Galuschka
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