Die Sommerpause ist vorbei, Opposition und Regierung behaken sich wieder. Aber auch die erneute Auseinandersetzung zwischen Merkel und Seehofer zeigt: Die Streitkultur ist in eine Schieflage geraten. Das bedroht die Demokratie, meint Autor Christian Schüle.
Jetzt beginnt wieder der Wahnsinn. Im Bundestag werden von nun an wieder Empörung inszeniert und Eklats kalkuliert. Vor allem AfD-Politiker reden besonders gern im Ausnahmezustand einer verabredeten Entrüstung, der dann seitens der anderen Parteien die provozierte Gegenentrüstung folgt.
Die "Alternative für Deutschland" ist, um Alternative sein zu können, geradezu angewiesen auf ihre Verachtung durch die sogenannten Etablierten. Dafür tut sie, was nötig ist: hier eine rhetorische Grenzüberschreitung, dort ein bewusst zweideutiger Satz oder eine gut getimte Provokation – und alle reagieren. Sie wüten und zetern, wie man es in der bisher eher biederen deutschen Parteien-Parlaments-Demokratie nicht für möglich gehalten hätte. Streit ist das nicht. Dabei wäre heute nichts wichtiger denn guter Streit!
Deutschland hat keine gute Streitkultur
Deutschland kann und hat vieles – eine gute Streitkultur gehört nicht dazu. In der Komfortzone des vergangenen Jahrzehnts, scheint es, haben Politik und Gesellschaft das Streiten geradezu verlernt. Auf Geschlossenheit und Konsens getrimmt, wurde Widerspruch sofort als Skandal betrachtet und Streit vornehmlich als Angriff mit Vernichtungsabsicht assoziiert, als bierernstes Gefecht mit dem Ziel der Beleidigung und Bloßstellung des "Gegners". Und im dauererregten Twitter-Gewitter, angesichts der sofortigen Belohnungs- und Bestrafungstyrannei durch oftmals asoziale soziale Netzwerke und demoskopische "Blitzumfragen" werden Politiker unablässig be- und verurteilt. Wer dauernd berechnet wird, wird selbst berechnend. Er taktiert. Resultat der Taktiererei ist Nullsummen-Rhetorik.
Bestes Beispiel: Seehofer gegen Merkel. Das ist Streit, aber ein schlechter, keine Frage. Stillos geführt, mangelhaft kommuniziert, von persönlichen Gefühlen geleitet. Guter Streit ist immer konstruktiv auf Lösung angelegt. Er ist ein Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. Streit als hohe Kunst der Kommunikation setzt eine gute Kinderstube voraus, Selbstbeherrschung und Souveränität, um stellvertretend für die Bürger in einer gemeinsamen Auseinandersetzung die beste Lösung für Land, Republik und Gemeinwohl zu finden.
Guter Streit heißt ja grundsätzlich erst einmal zuhören, ausreden lassen, den anderen auf Augenhöhe annehmen. Heißt: Differenzen bemerken und anerkennen, Argumente prüfen und die "andere" Sicht der Dinge würdigen, auch wenn man sie selbst nicht teilt. Nach einem guten Streit gehen alle Kontrahenten als Sieger vom Platz. Den Gegner das Gesicht wahren zu lassen, ist Ausdruck von Bildung, vor allem aber dient es der Sache.
Konstruktiver Streit erhöht Glaubwürdigkeit der Politik
Gerade heute, in Zeiten von Tobsucht und Shitstorm, Hass, Häme, Hetze, Verachtung und Ehrabschneiderei, müssten Politiker mehr denn je ernsthaft miteinander ringen, denn über Streit und die Art des Streits verhandelt eine Gesellschaft ihre Werte und Normen. Würde mehr und gekonnt gestritten, erhöhte das die Glaubwürdigkeit der Politik, von der offenbar zunehmend mehr Bürger, so teilen uns die Umfragen mit, sich nicht mehr repräsentiert fühlen. Man sollte an den Schulen künftig nicht nur Digitalkultur, sondern auch Debattenkunde lehren. Guter Streit heißt ja doch, Interesse am Anderen zu haben. Wer nicht streitet und nur schreit, bezieht sich nicht aufeinander. Die Dauer-Emotionalisierung des Politischen führt letztlich zu Sprachlosigkeit und Sprechverrohung und im schlechtesten Fall zu Gewalt. Dann wird verdrängt statt verständigt. Und das wäre das Ende der parlamentarischen Demokratie.
Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "Zeit" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer) sowie "Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben" (Edition Körber-Stiftung). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.