Politische Begriffe

Darf man Rechtsextreme noch als rechtsextrem bezeichnen?

Ein Teilnehmer einer Demonstration von Rechtsextremen hält eine schwarz-weiß-rote Fahne in der Hand und trägt ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift "Deutschland".
Nicht jeder Rechtsextreme will sich auch als solcher bezeichnen lassen. Das kann Folgen für die politische Wahrnehmung haben, warnt Tobias Ginsburg. © dpa picture alliance/ Uli Deck
Von Tobias Ginsburg · 13.06.2018
Die politische Rechte wehrt sich gern dagegen, als rechts bezeichnet zu werden. Sie finde dafür teilweise haarsträubende Argumente, die den Diskurs aber effektiv unterdrücken, sagt der Autor Tobias Ginsburg. Dabei sei eine klare Bezeichnung unerlässlich.
Können wir Nazis noch Nazis nennen? Faschisten und Rechtsextremisten als solche bezeichnen? Von Sprachverboten zu reden, das will ich lieber den Rechtsaußen überlassen. Aber während die Debatten zusehends nach rechts wandern, da verfallen wir, so scheint es, einer Sprachkrise.
Eine Anekdote. Aus dem Wahlkampfsommer 2017, aus dem dunkeldüsteren Herzen Deutschlands, in diesem Fall: einem Gasthaus in der thüringischen Kleinstadt Kahla.
Stahlharte Parolen lassen hier die Wut der Menschen zu Hass werden: Hass auf Flüchtlinge und Minderheiten, Gutmenschen und ihre degenerierte Demokratie. Aber Nazis gebe es hier keine - das verkündet der Redner und dröhnt: "Wir lassen uns nicht in die rechte Ecke stellen."
Ganz hinten im Saal, von wo ich das Spektakel beobachte, da steht ein Neonazi: so ein richtiges, kolossales und extragrimmiges Exemplar, Runen auf seinem Shirt, ein Sonnenrad auf seine Wade tätowiert - die Gesinnung in den massiven Körper eingenarbt. Und kaum hat er gehört, dass man hier ja nicht rechts und niemand ein Nazi sei, da reißt er sein Bier in die Höhe und brüllt aus tiefster Seele: "Jawoll!"
Fassungslos muss ich lachen. Reißt die neurechte Rhetorik Neonazis etwa in eine Identitätskrise? Der Neonazi will kein Neonazi sein. Ist das etwa nicht witzig?

Rechte legen Kritiker mit Taschenspielertricks lahm

Naja. Je länger man darüber nachdenkt, desto unwohler muss einem werden. Denn wie mein thüringischer Titan wollen viele Anhänger der neuen ultrarechten Bewegungen nicht als rechts gelten. Und keiner als Faschist. Und Nazi will in Deutschland seit 1945 sowieso kaum einer sein. Zumindest nicht öffentlich.
Das ist albern, aber es funktioniert. Solange sie sich selbst als paneuropäisch-identitäre Ethnonationalisten mit sozialistischer Neigung bezeichnen oder besorgte Bürger oder einfach Keine-Nazis-Abers, haben wir den Rechten nicht viel entgegenzuhalten. Nenn' ihre Ideologie faschistisch und sie lachen über die rhetorische Keule, klagen wegen Diffamierung oder erwidern in allerbester Pausenhoflogik: "Gar nicht, selber!"
Es ist ein Taschenspielertrick der Rechten: Da ziert Stauffenbergs Konterfei unzählige T-Shirts und auf Wahlkampfplakaten war zu lesen "Hans und Sophie Scholl würden AfD wählen". Da spricht man von der Kanzler-Diktatorin und der SA-Antifa und ruft auf zum Widerstand.
Verkürzte Kapitalismuskritik, völkische und biologische Rassismen, Hass auf parlamentarische Demokratie und den vermeintlich dekadenten Westen: All die Bestandteile einer faschistischen Bewegung sind gegeben, aber der bürgerliche Diskurs leidet an Beißhemmung. Selbst wenn historisch Bezug genommen wird, wenn einer die Nazizeit etwa als "Vogelschiss" bezeichnet und zugleich wieder stolz sein will auf die Leistungen deutscher Soldaten "in zwei Weltkriegen" ... Ist der dann etwa kein Neonazi?
Nein, heißt es dann, ein Nazi, ob oldschool oder neo, könne nur jemand sein, der Adolf und die Schoah prima fände. Man entwerte den Begriff, denn die historischen Nazis, das sind ja die, die sechs Millionen Menschen industriell ermordet haben.

"Nazi" darf kein hohles Schimpfwort sein

Klar ist da was dran: "Nazi" und "Faschist" dürfen keine hohlen Schimpfworte sein. Man muss präzise argumentieren. Analytisch fundiert. Sonst ist es leicht für die Menschenfeinde, all das zurückzuweisen. Sonst funktioniert ihr Gegenargument "Selber!" Und es geht auch nicht darum, mit diesen Bezeichnungen den Diskurs abzubrechen, nicht einmal darum, diese Menschen aus den kuscheligen Talkshowrunden auszuladen.
Aber wir müssen wissen und benennen, mit wem wir da sprechen, streiten und leben. Müssen uns klarmachen, was Nazis und was Faschisten sind und waren. Müssen ihre Wiedergänger klar als solche bezeichnen.
Wenn wir das nicht tun, dürfen wir auch nicht über den thüringischen Koloss lachen: Dann gehört auch dieser Neonazi samt seinem Sonnenrad und seiner Gesinnung zur Mitte der Gesellschaft.

Tobias Ginsburg, geboren 1986 in Hamburg, ist Theaterregisseur und Autor. Er studierte Dramaturgie, Literaturwissenschaft und Philosophie an der Bayrischen Theaterakademie und der LMU München. Seit 2007 schreibt und inszeniert er Theaterstücke, wobei politische und gesellschaftliche Themen im Vordergrund seiner Texte, Arbeiten und oft aufwendigen Recherchen stehen. Im März 2018 erschien mit "Die Reise ins Reich" sein Buchdebüt.

© Marietta Weber
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