Politisch hellwach und klarsichtig
Michael Schulte zeichnet in seinem Buch ein Porträt des Wiens der <em>belle époque</em>, der Blütezeit der jüdischen Emanzipation und einer faszinierenden Frau. Berta Zuckerkandl, 1864 in Wien geboren, ist zu dieser Zeit eine öffentlichen Figur, gleich dreifach: Sie schreibt, sie bringt in ihrem Salon viele Künstler zusammen. Und sie macht selbst Politik - konspirativ hinter den Kulissen, um den Ersten Weltkrieg zu verhindern.
Die Schüsse vom 28.Juni 1914 in Sarajevo sind das schrille Signal für den europäischen Zivilisationsbruch, der das "Jahrhundert der Gewalt" einläutet: den Ersten Weltkrieg. Das wissen wir heute. Ein pro-serbischer bosnischer Attentäter erschießt den österreichischen Thronfolger und seine Frau. Nicht dass dem Mann jemand ernsthaft nachtrauert - "aufgeblasen und gallig, verbreitete er Missmut, beinah Schrecken", wird Berta Zuckerkandl später notieren.
Dass Franz Ferdinand sein Nachfolger werden muss, nachdem Rudolf sich umgebracht hat, ist seinem eigenen Vater unangenehm. Für die Wiener Gesellschaft um die Jahrhundertwende, vor allem für ihre kosmopolitische Intelligenzia und deren tragende Säule, das kunstsinnige, liberale jüdische Bürgertum, ist dieser antisemitische Kulturbanause mit dem Hass auf alles Moderne, eine Zumutung. Aber dass dieser Mord so bald und anscheinend unaufhaltsam in diesen Krieg mündet, dass auch die kultiviertesten europäischen Politiker nicht willens oder nicht in der Lage sind, ihn zu verhindern, das weiß selbst die bestens vernetzte Berta Zuckerkandl damals nicht.
Auf dem Hintergrund dieser weltpolitischen Großwetterlage zeichnet Michael Schulte ein Porträt des Wiens der belle époque, der Blütezeit der jüdischen Emanzipation und dieser faszinierenden Frau. Berta Zuckerkandl, 1864 in Wien als Tochter des berühmten Zeitungsmannes Moriz Szeps geboren, verheiratet mit dem Anatomieprofessor Emil Zuckerkandl, saugt Politik und Kultur schon mit der Muttermilch ein. Im Elternhaus gehen deren Repräsentanten ein und aus. Vater Szeps ist befreundet mit Kronprinz Rudolf - er bringt (heimlich und pseudonym) Artikel von ihm, eine neue europäische Politik betreffend - und Georges Clemenceau, der Berta in Paris mit den Impressionisten bekannt macht und dessen Bruder Bertas Schwester Sophie heiratet.
Wer so geprägt ist, muss eine öffentliche Figur werden. Berta Zuckerkandl wird es gleich dreifach: Sie schreibt - Kunstkritiken wie politische Kommentare (was oft dasselbe ist). Sie bringt Menschen zusammen - ihr Salon ist Treffpunkt für nahezu alle Künstler und Brutstätte vieler kreativen Ideen ihrer Zeit. Und sie macht selbst Politik - konspirativ hinter den Kulissen, um den Ersten Weltkrieg zu verhindern.
Als sie 1945 stirbt, ist ein noch grauenvollerer Zweite Weltkrieg passiert. Berta Zuckerkandl, seit 1938 auf der Flucht vor dem mörderischen Judenhass, der inzwischen überall in Europa exekutiert wird, überlebt gerade so, zuletzt in Algier, krank, arm, politisch hellwach und klarsichtig. Wie todtraurig es ist, dass eben nicht die Berta Zuckerkandls dieser Welt geschichtsmächtig werden, das macht einem Michael Schultes gar nicht trauriges, sondern spannendes und detail- und kenntnisreiches Buch einmal mehr schmerzhaft klar.
Rezensiert von Pieke Biermann
Michael Schulte: Berta Zuckerkandl - Salonière, Journalistin, Geheimdiplomatin
Atrium-Verlag, Zürich 2006, 250 Seiten, 22,90 Euro
Dass Franz Ferdinand sein Nachfolger werden muss, nachdem Rudolf sich umgebracht hat, ist seinem eigenen Vater unangenehm. Für die Wiener Gesellschaft um die Jahrhundertwende, vor allem für ihre kosmopolitische Intelligenzia und deren tragende Säule, das kunstsinnige, liberale jüdische Bürgertum, ist dieser antisemitische Kulturbanause mit dem Hass auf alles Moderne, eine Zumutung. Aber dass dieser Mord so bald und anscheinend unaufhaltsam in diesen Krieg mündet, dass auch die kultiviertesten europäischen Politiker nicht willens oder nicht in der Lage sind, ihn zu verhindern, das weiß selbst die bestens vernetzte Berta Zuckerkandl damals nicht.
Auf dem Hintergrund dieser weltpolitischen Großwetterlage zeichnet Michael Schulte ein Porträt des Wiens der belle époque, der Blütezeit der jüdischen Emanzipation und dieser faszinierenden Frau. Berta Zuckerkandl, 1864 in Wien als Tochter des berühmten Zeitungsmannes Moriz Szeps geboren, verheiratet mit dem Anatomieprofessor Emil Zuckerkandl, saugt Politik und Kultur schon mit der Muttermilch ein. Im Elternhaus gehen deren Repräsentanten ein und aus. Vater Szeps ist befreundet mit Kronprinz Rudolf - er bringt (heimlich und pseudonym) Artikel von ihm, eine neue europäische Politik betreffend - und Georges Clemenceau, der Berta in Paris mit den Impressionisten bekannt macht und dessen Bruder Bertas Schwester Sophie heiratet.
Wer so geprägt ist, muss eine öffentliche Figur werden. Berta Zuckerkandl wird es gleich dreifach: Sie schreibt - Kunstkritiken wie politische Kommentare (was oft dasselbe ist). Sie bringt Menschen zusammen - ihr Salon ist Treffpunkt für nahezu alle Künstler und Brutstätte vieler kreativen Ideen ihrer Zeit. Und sie macht selbst Politik - konspirativ hinter den Kulissen, um den Ersten Weltkrieg zu verhindern.
Als sie 1945 stirbt, ist ein noch grauenvollerer Zweite Weltkrieg passiert. Berta Zuckerkandl, seit 1938 auf der Flucht vor dem mörderischen Judenhass, der inzwischen überall in Europa exekutiert wird, überlebt gerade so, zuletzt in Algier, krank, arm, politisch hellwach und klarsichtig. Wie todtraurig es ist, dass eben nicht die Berta Zuckerkandls dieser Welt geschichtsmächtig werden, das macht einem Michael Schultes gar nicht trauriges, sondern spannendes und detail- und kenntnisreiches Buch einmal mehr schmerzhaft klar.
Rezensiert von Pieke Biermann
Michael Schulte: Berta Zuckerkandl - Salonière, Journalistin, Geheimdiplomatin
Atrium-Verlag, Zürich 2006, 250 Seiten, 22,90 Euro