Parlamentswahl in Frankreich

Frust auf dem Land

26:25 Minuten
Zuhörerinnen in den hinteren Reihen steigen während einer Rede von Jean-Luc Mélanchon auf ihre Stühle.
Bemühen um Wählerinnen und Wähler im Vorfeld der französischen Parlamentswahlen 2022: Der linke Politiker Jean-Luc Mélanchon hält eine Rede. © picture alliance / abaca / Castel Franck
Von Léonardo Kahn · 09.06.2022
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Die Politikverdossenheit in Frankreich nimmt zu. Das liegt vor allem an der Kluft zwischen Nationalstaat und Regionen und spiegelt sich auch in der Wahlbeteiligung. Die wird bei den Parlamentswahlen laut Prognosen historisch niedrig ausfallen.
Nenas 99 Luftballons schallen über den Marktplatz der Kleinstadt Issoudun – ein Ort in der Mitte Frankreichs, der dafür bekannt ist, unbekannt zu sein. Heute findet das einzige Stadtfest im Jahr statt. Ein großer Tag für Bürgermeister André Laignel. Gut gelaunt steht er neben der Kapelle, schnippt mit beiden Händen zum Takt und wird wirklich von jedem Dorfbewohner einzeln begrüßt.
Der 79-jährige Sozialist ist seit 45 Jahren Bürgermeister von Issoudun –  Zeit genug für eine stattliche Anzahl an Spitznamen. „Petit pois“, nennen sie ihn hier zum Beispiel - kleine Erbse, wegen seiner Körpergröße von 1 Meter 60.       
André Laignel nimmt das mit Humor. Er weiß, dass die Leute ihn schätzen. Und dennoch: Bei der ersten Wahlrunde der zurückliegenden Präsidentschaftswahlen haben die Menschen hier mehrheitlich die rechtsextreme Amtsanwärterin Marine Le Pen gewählt. Ein Ergebnis, das den sozialistischen Bürgermeister dennoch kaum überrascht hat.

Wütend aber nicht fascho

André Laignel zufolge wählte seine Kleinstadt Marine Le Pen vor allem aus Protest gegen den aktuellen Präsident Emmanuel Macron. Nicht weil die Bewohner des Stätchens die Werte des Rassemblement National vertreten. „Fachés, pas facho“, wütend, nicht fascho, seien die Leute hier meint der Bürgermeister.
„Über die Jahre hat die Regierung auf dem Land die öffentlichen Einrichtungen zurückgebaut. Es werden Krankenhausbetten geschlossen, Schulen geschlossen, Bankschalter geschlossen, die Liste ist unendlich!“
Issoudun ist nicht die einzige Kleinstadt mit schizophrenem Wahlverhalten. Obwohl alteingesessene Parteien wie die rechtskonservativen Les Républicains und die Parti socialiste in fast allen Gemeinden des Centre Val de Loire regieren, haben sie bei den Präsidentschaftswahlen zusammen nur 6,5 Prozent der Stimmen geholt – ein Witz sagt André Laignel.

Schizophrenes Wahlverhalten

„Die drei wählerstärksten Parteien auf nationaler Ebene: die linke France insoumise, Macrons République en Marche und der rechtsextreme Rassemblement National, sind auf lokaler Ebene politische Zwerge. Die beiden wichtigsten Parteien vor Ort, die das Frankreich der Bürgernähe und des Alltags verkörpern, sind die Republikaner und die Sozialisten. Diese Kluft zwischen dem Nationalstaat Frankreich und den Regionen ist sehr  besorgniserregend.“
Ein älterer Mann in blauem Hemd und Jacket lächelt in die Kamera.
„Es wird alles getan, um unsere Handlungsfähigkeit einzuschränken", wirft Bürgermeister André Laignel der nationalen Politik vor.© Léonardo Kahn
Der Graben zwischen nationaler und lokaler Repräsentation habe sich im Laufe seiner politischen Karriere immer weiter vertieft, sagt der Bürgermeisters. Vor genau 40 Jahren hat er noch gemeinsam mit dem sozialistischen Präsidenten François Mitterand das erste Dezentralisierungsgesetz entworfen. Damals wurde die kommunale Steuerkompetenz eingeführt, wodurch sich die Gemeinden ähnlich wie in Deutschland durch Gewerbesteuern autonom finanzieren konnten. 
Doch dieses Gesetz wurde im Laufe der Zeit  immer weiter ausgehöhlt: erst durch Präsident Nicolas Sarkozy, der 2010 die Gewerbesteuer abschaffte, dann durch François Hollande und Emmanuel Macron, die die Wohnsteuer abschafften. Heute finanzieren sich die Gemeinden fast ausschließlich über den Geldbetrag, den ihnen die Regierung in Paris überweist, erzählt André Laignel.

Abhängig von Paris

„Es wird alles getan, um unsere Handlungsfähigkeit einzuschränken. Und zwar auf einfachste Weise: indem man uns finanziell abwürgt.“ 
Dabei wirkt die Kleinstadt Issoudun nicht wirklich arm. Zwei Louis-Vuitton-Manufakturen, ein Waffenhersteller und eine Fabrik für Flugzeugsitze bescheren der 11.000-Seelen-Gemeinde durchaus einen gewissen Wohlstand. 
Und trotzdem wählte die Stadt Marine Le Pen. Warum genau, will niemand sagen. Man spricht hier ungerne über Politik, vor allem nicht über Rechtsextremismus, erzählt eine Bewohnerin.
„Hier sagt niemand, dass er für Marine Le Pen gewählt hat. Issoudun ist so klein, dass sich jeder kennt.“
Maria sitzt auf der Terrasse vor einem Café, rubbelt an einem Lottoschein. Ein sonniger Sonntag Vormittag. Versonnen nippt die 50-Jährige an ihrem Pastis-Glas, zieht an einer Zigarette. Sie habe ihr ganzes Leben links gewählt, sagt sie. Doch gerade erkenne sie sich in keiner der Parteien wieder.

Kein Vertrauen in die Parteien

„Ich bin durchaus links, habe mich bei der Wahl aber enthalten. Es gibt keine wahre linke Partei mehr – auf jeden Fall nicht mehr so, wie noch zu Mitterands Zeiten . Alle kriegen sich dauernd nur in die Haare. Da vergeht mir die Lust.“
Um diese ziemlich weit verbreitete Unlust in eine neue Lust auf Poliitk zu verwandeln, haben sich die wichtigsten Parteien des linken Spektrums für die anstehenden Parlamentswahlen nun zusammengetan. Unter dem Banner NUPES, die Abkürzung für Nouvelle Union populaire écologique et sociale, tritt nun Jean-Luc Mélenchons Partei La France insoumise gemeinsam mit den Sozialisten, den Grünen und den Kommunisten an, um eine Mehrheit der Sitze im Assemblée Nationale zu gewinnen.
Allerdings täuscht die neue Allianz nicht wirklich darüber hinweg, dass die linken Parteien vor allem uneins sind. Für eine große Kontroverse im aktuellen Wahlkampf sorgte etwa der grüne Bürgermeister von Grenoble, Éric Piolle. Auf seine Anregung hin sollte ab Mitte Mai den Frauen in Grenoble das Tragen eines Burkinis in öffentlichen Schwimmbädern ermöglicht werden. Der Vorstoß löste eine landesweite Laizismus-Debatte aus. Innenminister Gérald Darmanin beantragte eine Überprüfung der Regelung. Vor zwei Wochen wurde sie vom Verwaltungsgericht kassiert.
Als sei das nicht genug, droht nun außerdem der rechtskonservative Präsident der Region Auvergne-Rhône-Alpes, der Stadt Grenoble die Gelder zu entziehen. Den Bürgermeister Éric Piolle lässt diese landesweite Empörung entsetzt zurück.

Handlungsunfähigkeit auf regionaler Ebene

Egal ob eine neue Schwimmbad-Regelungen oder die Finanzierung erneuerbarer Energien - als Bürgermeister werde er ständig davon abgehalten, seine Projekte umzusetzen, sagt er. Dabei sei das so wichtig, auf lokaler Ebene Zeichen zu setzen.  
“Auf lokaler Ebene können konkrete Projekte durchgeführt werden, die die Menschen bewegen und über die sich auch Lobbygruppen zurückdrängen lassen", sagt Éric Piolle. "Einer der Gründe, warum Frankreich zum Beispiel seine Ziele bei den erneuerbaren Energien nicht einhalten kann und auch bei der Verringerung von Pestiziden oder Luftverschmutzung hinterherhinkt sei, dass der Nationalstaat sich ständig einmischt und alles zu kontrollieren versucht.“
André Laignel und Éric Piole: Beide Bürgermeister bemängeln das fehlende Vertrauen der Regierung. Seit mehr als zehn Jahren schon fordert der französische Bürgermeister-Verband AMF, eine drastische Verstärkung des Dezentralisierung-Gesetzes. Bisher erfolglos.

Der Zentralismus ist das Problem

Allerdings sei die Kritik der Bürgermeister, die die Politikverdossenheit der Bürger vor allem an der Kluft zwischen Nationalstaat und Regionen festmacht, auch nur teilweise berechtigt, erklärt Martial Foucault, Politikwissenschaftler an der Sciences Po.
„Es ist ein Doppelspiel, bei dem der Bürgermeister sagt: 'Schaut, was ich erreicht habe, und wenn ich etwas nicht erreichen konnte, dann liegt es an Paris'. Das ist genau die gleiche Argumentation, die wir zwischen Frankreich und Europa haben. Es geht hier nicht nur um den Unterschied Lokal/National, sondern auch um die französische Politik-Kultur.“
Ein Mann mittleren Alters mit Dreitagebart, sehr kurzem Haar und schwarzer Brille
Der Politikwissenschaftler Martial Foucault bestätigt: Ländliche Regionen profitieren weniger vom landesweiten Wohlstand als die Metropolen.© Léonardo Kahn
Dennoch bestätigt der Forscher Martial Foucault: Ländliche Regionen profitieren weniger vom landesweiten Wohlstand als die Metropolen. Er spricht sogar von einer Ghettoisierung der Dörfer. Außerdem stimme es in der Tat, dass den Bürgermeistern immer weniger politische Verantwortung zugestanden würde und sie aktuell hauptsächlich Anweisungen aus Paris befolgten. 
Um die Kluft zwischen lokaler und der nationaler Politik zu schließen, brauche es durchaus einer Wiedereinführung der kommunalen Steuerkompetenz, plädiert der Politikwissenschaftler.
„Politische Eigenständigkeit und Verantwortung müssen mit der Kompetenz einhergehen, Steuern erheben zu dürfen. Denn erst durch eine lokale Steuer, kann auch auf lokaler Ebene eine Bürgerschaft geschaffen werden.“

Politisches Engegement braucht das Lokale

Eine Bürgerschaft, die es braucht, damit Politik ernst genommen wird. Durch eine Kommunalsteuer könne zum Beispiel sehr präzise gegen die schwindende Kaufkraft vorgegangen werden, das im aktuellen Wahlkampf wichtigste Wahlthema. Außerdem könnten die Einwohner so auch besser die wirtschaftliche Bilanz ihrer Bürgermeister beurteilen. Heute würden Bürgermeister hauptsächlich aus Sympathie-Gründen gewählt, sagt Foucault, nicht wegen ihrer politischen Kompetenz. Die Erosion der alten Parteien sei auch hier nur noch eine Frage der Zeit.
"Die France insoumise, die République en Marche und das Rassemblement National brauchen 15 bis 20 Jahre, um sich auf lokaler Ebene zu etablieren. Dann wird es auch lokal einen Wettbewerb zwischen diesen Bewegungen geben.“
Das Wahlverhalten jüngerer Dorfbewohner weist schon jetzt in diese Richtung hin – auch in Issoudun. Für das Dorffest wurde ein Boxautomat aufgestellt, um den sich bei Nachteinbruch vor allem alkoholisierte Jugendliche tummeln.

Wahlabstinenz ist auch eine Wahl

Auch der 21-jährige Abou Bakr steht hier an. Der Lehramtsstudent ist von seiner Stadt Issoudun angewidert, und macht dafür auch den Bürgermeister André Laignel verantwortlich.
„Man kann hier nichts machen, alles ist nur für die älteren Menschen. Der Bürgermeister will die Stadt nicht modernisieren, obwohl hier nicht nur ältere Menschen wohnen. Die Jugendlichen fühlen sich im Stich gelassen, und fangen an Dummheiten zu machen. Irgendwo ist das verständlich, denn sie haben auch sonst nichts zu tun.“
Abou Bakr gehört zur Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren, die in Frankreich überwiegend aus Nichtwählern besteht. Gäbe es in Issoudun einen jungen Kandidaten der linken France insoumise: Abou Bakr würde für ihn stimmen.
Bei den bevorstehenden Parlamentswahlen wird der 21-Jährige jedoch auch nicht wählen
„Keine der Parteien vertitt mich: weder links, noch rechts, noch rechtsextrem, noch linksextrem.“
Bei den Parlamentswahlen soll die Wahlenthaltung - Umfragen zufolge - neue Rekordwerte erreichen. Das hat für die erste Wahlrunde am Sonntag konkrete Folgen, da ein Kandidat 12,5 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigen braucht, um in die Stichwahl zu kommen – und nicht nur 12,5 Prozent der Stimmen. Wenn sich die Umfragen bewahrheiten und nur die Hälfte wählen geht, braucht ein Kandidat das doppelte, also 25 Prozent der Stimmen. Je nach Wahlkreis kann das auch für Kandidaten etablierter Parteien ein unerreichbares Ziel werden.

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