Politikerschelte

Der Berufspolitiker als Tragiker in Zeiten der Entfremdung

Markus Söder als dickes, grünes Ungeheuer Shrek. Um ihn herum eine Fastnachtsgesellschaft.
Egal, wie volksnah ein Politiker sich gibt: Das Volk entgleitet ihm. Beispiel im Bild: Markus Söder, verkleidet als Shrek, auf der Fastnacht in Franken. © David Ebener/dpa
Eine Intervention von Christian Schüle · 01.11.2018
Politiker sind rasch beschimpft. Dabei ist er per sé eine tragische Figur: Er opfert sich für die Demokratie auf, steht aber von allen Seiten in der Kritik. Er verdient weniger Häme, sondern Unterstützung, meint Christian Schüle.
Im Feuergefecht der dauererregten Öffentlichkeit und der permanenten Belohnungs- und Bestrafungstyrannei durch a-soziale soziale Netzwerke ist der Politiker die tragische Figur unserer Zeit: Er kann nichts mehr berechnen, er kann Macht nicht mehr steuern. Er ist ratlos, orientierungslos, fassungslos.
Das Volk ist den Parteien abhanden gekommen, weil es gar kein Volk gibt, sondern abertausende Völkchen. Wähler und Politiker verstehen sich nicht mehr und haben kaum noch Verständnis füreinander.

Geringe Erfolgswahrscheinlichkeit

Markus Söder, dem hier keinerlei gesonderte Sympathie entgegengebracht werden soll, ist das ideale Beispiel für den Berufspolitiker als Tragiker in Zeiten der Entfremdung. Er will alles ungeheuer richtig machen und geliebt werden – kann es aber nur falsch machen und wird zurückgewiesen.
Er hat Selfies mit Tieren gepostet, aus dem Dienstwagen zu den Menschen gesprochen, hat sich in Charme und Selbstironie versucht, hat nach Glaubwürdigkeit gerufen, Demut gezeigt, sich wortgewaltig von der AfD abgegrenzt und zur Feier des christlichen Abendlandes Kreuze aufgehängt. Er war Stammgast bei Markus Lanz, hat sich im Fasching als Shrek verkleidet und musste – welch Hiobs-Prüfung allein dies! – eine halbe Ewigkeit Horst Seehofer als Chef ertragen, ehe er endlich selber ran durfte.
Der Politiker ist ein passabel entlohnter Mitbürger mit extrem hoher Selbstwirksamkeitserwartung – und extrem geringer Erfolgswahrscheinlichkeit. Er ist der Scheiternde par excellence, weil die so gegensätzlichen wie gewachsenen Ansprüche, die an ihn herangetragen werden, unerfüllbar sind.
Der Wähler mag keine Ehrgeizlinge, erwartet aber großen Ehrgeiz bei der Problemlösung. Der Wähler fordert Anstand, drischt aber ohne jeden Respekt auf den Politiker ein, wenn der nicht sofort liefert. Der Politiker soll Sieger-Mentalität haben, aber alle geiern danach, dass er fällt; Medien lieben Abstürze, und der Mensch ist gern schadenfroh.

Gescheiterte Image-Steuerung

Täglich wird er medial überwacht, jedes Räuspern wird vernommen, jeder Schluckauf interpretiert, jeder Halbsatz zu Tode gedeutet. Der clevere Politiker erkennt darin eine Chance zur Image-Steuerung und hält der Journaille ab und an ein Stöckchen hin. Auch das hat Söder versucht – sein fehlendes Gespür fürs richtige Maß war aber allzu offensichtlich.
Der Tragiker ist letztlich ohnmächtig, obwohl ihm permanent Machtgeilheit unterstellt wird. WIR, der öffentliche kritische Geist, WIR urteilen über Menschen in höchst komplexen Sachlagen auf der Basis von Interpretationen, Stereotypen, Unwissen und Halbbildung. Wir ignorieren Zusammenhänge und empören uns auf der Basis kontextloser Zitate über einen Sachverhalt, den wir gar nicht einordnen können.
Wer aber unsere maximalen Erwartungen an zugleich moralische Perfektion, inhaltliche Kompetenz, vollendete Sachkenntnis, sittlichen Anstand, permanente Öffentlichkeitspräsenz und ausgeprägte Durchsetzungskraft in einer Person enttäuscht, bitteschön, der ist eine Pfeife!

Aufreiben für die Demokratie

Hat der Tragiker sich seine Verachtung selbst zuzuschreiben? Natürlich, er müsste ja kein Politiker sein. Er könnte Kommentator werden und Politiker kritisieren. Er könnte Bürger bleiben und sich über Politiker ereifern. Er könnte Unternehmer werden und Geld verdienen, aber bitte nicht zu viel, großer Reichtum kommt hierzulande nicht so gut an.
Wer in die Öffentlichkeit geht, muss mit Kritik rechnen, gewiss. Niemand wird zum Regieren gezwungen, völlig richtig. Aber wenn sich alle so vornehm zurückhalten – wer macht dann diese so unerhört komplizierte, komplexe, mühsame, aufreibende, wunderbare Demokratie, die anscheinend gerade vor die Hunde geht?

Christian Schüle, geboren 1970, war Redakteur der "Zeit" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer) sowie "Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben" (Edition Körber-Stiftung). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Christian Schüle blickt ernst in die Kamera, steht vor einer braunen Wand und trägt ein blaues Hemd.
© Markus Röleke/Droemer
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