Politik

Wulffs Abrechnung

Ex-Bundespräsident Christian Wulff bei der Buchpräsentation "Ganz oben Ganz unten"
Ex-Bundespräsident Christian Wulff bei der Buchpräsentation "Ganz oben Ganz unten". © picture alliance / dpa / Foto: Wolfgang Kumm
Von Arno Orzessek |
Im Februar 2012 trat Christan Wulff vom Amt des Bundespräsidenten zurück. Vorteilsnahme im Amt wurden ihm vorgeworfen, die Staatsanwaltschaft ermittelte. Zwei Jahre später ist er von allen Vorwürfen freigesprochen und hat ein Buch geschrieben.
"Pflichtlektüre" hört sich altbacken an. Und dennoch: Jeder Journalist und überhaupt jedermann, der an der Verdammung und Verächtlichmachung Christian Wulffs mitgewirkt hat, sollte "Ganz oben Ganz unten" unbedingt lesen. Denn es ist ein Mindestgebot der Fairness, die Sicht des Verdammten auf die Medienhetze, die seinem Rücktritt als Bundespräsident vorausging, zur Kenntnis zu nehmen. Aber das ist nicht alles. Dem Rücktritt, der nach der Aufhebung der Immunität unausweichlich war, folgte bekanntlich ein gigantischer Prozess, vor dem ein 24-köpfiges Ermittlerteam Wulffs Leben durchleuchtet und rund 30.000 Seiten Hauptakten produziert hat. Wulff legt dar, dass die Medien (wie immer: längst nicht alle) mit der Staatsanwaltschaft Hannover komplottartig zusammengespielt haben - was schmerzhafte Fragen aufwirft. Zuerst und zuletzt: Wozu gibt's das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung, wenn es derart mit Füßen getreten werden darf? Immerhin lautete das abschließende Urteil von Frank Rosenow, dem Vorsitzenden Richter: "Uneingeschränkt unschuldig".
Im ersten Teil des Buches erzählt Wulff in ständiger Rücksicht auf die Kommentierung der Medien, wie er in Konkurrenz zu Joachim Gauck, dem Liebling der Springer-Presse, Bundespräsident wurde. Das ist zeithistorisch interessant. Allerdings erlaubt sich Wulff viele Abschweifungen, die seinen Begriff von Politik und seine politische Praxis in ein überaus freundliches Licht rücken. Typisch Politiker-Biografie, denkt man in solchen Passagen. Im Kapitel "Die ersten hundert Tage" entfaltet sich jedoch die fatale Dynamik einer von Anfang an unglückseligen Präsidentschaft. Unter dem Eindruck der harschen Kritik an seiner Nominierung gerät Wulff in einen "Teufelskreis": "Weil ich unsicher war, wurde ich kritisiert, und weil ich kritisiert wurde, war ich unsicher."
Wulff stellt seine rhetorischen und strategischen Ungeschicklichkeiten nicht in Abrede. Die Anmaßung indessen, mit der insbesondere Bild den Bundespräsidenten verfolgte, ist in der Tat verstörend. Genauer: Sie erscheint menschlich ekelerregend und politisch inakzeptabel. "Das ginge auf keinen Fall", maßregelte Bild-Chef Kai Dieckmann den Bundespräsidenten, als dieser ihm anvertraute, demnächst den Satz auszusprechen: "Auch der Islam gehört inzwischen zu Deutschland." Wulff sagte den mittlerweile berühmten Satz trotzdem. Bild, Welt und andere konterten mit noch mehr Bashing. Woraufhin Wulff seine berühmte "Krieg"-Ansprache auf Dieckmanns Anrufbeantworter hinterließ. Sie ist im Buch nachzulesen. Wulff weiß: Es war eine Dummheit.
Indessen reicht weder Wulffs partielle Dummheit noch die seltsame Melange von politischem Aufstieg und Glamour-Sucht noch seine (damals) bisweilen wurstige Selbstdarstellung aus, um die hysterische Treibjagd der Medien und die wahnhaften Nachstellungen der Staatsanwaltschaft zu rechtfertigen. Ob man nach der Lektüre von "Ganz oben Ganz unten" Christian Wulff bedauern muss, sei dahingestellt. Einiges spricht dafür. Alles spricht indessen dafür, über die heillosen Mechanismen in Medien, Öffentlichkeit und staatlichen Institutionen nachzudenken, die in der Causa Wulff wirksam wurden. Fest steht: All das Beschämende und Peinliche, das Wulff reichlich angehängt wurde, fällt zu großen Teilen auf die Beschämer selbst zurück.

Christian Wulff: "Ganz oben Ganz unten"
C.H. Beck, München , 2014
264 Seiten, 19,95 Euro

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