"Politik und Anstand"

Hans-Jochen Vogel war unter anderem SPD-Vorsitzender, Oberbürgermeister von München und Regierender Bürgermeister von Berlin. Das Gesprächsbuch mit dem Journalisten Heribert Prantl behandelt neben den Höhen auch das Umgehen mit den Tiefen politischen Wirkens.
Die Gespräche zu diesem Buch sind an einem einzigen Wochenende im Sommer des vergangenen Jahres geführt worden. Da besucht ein Journalist, Heribert Prantl, der Leiter der innenpolitischen Redaktion der Süddeutschen Zeitung in München den older statesman der SPD, Hans-Jochen Vogel, dort, wo er sich am wohlsten fühlt – weitab vom politischen Zirkus, in der Niederbayrischen Toskana, wie Prantl sie nennt – schon der Weg dorthin erzählt seine eigene Geschichte.

" Man fährt in östlicher Richtung aus München hinaus, lässt den Flughafen Franz-Josef-Strauß links liegen, braust vorbei an Langengeißling und Ottering und Wolferding, an Philsbiburg, und Binabiburg und Frauenhaselbach und Scherzthambach. Und gelangt dann, wenn man ein gutes Navigationssystem hat, oder in Niederbayern gut auskennt nach Bad Birnbach."

Dort lebt Hans-Jochen Vogel, wenn er gerade nicht in den Zentren politischer Betriebsamkeit mitmischt. Und dort, im tiefsten Niederbayern, sind wir mitten drin im selbst gewählten Schicksal von Hans-Jochen Vogel, der eben zeitlebens ein Politiker in der Diaspora war: Als Sozialdemokrat unter Bayern, vielleicht aber auch als Bayer unter Sozialdemokraten. Hier, in der erzkonservativen Provinz, hat Vogel seinen Ort gefunden, gerade weil er hier zu einer Existenz als Außenseiter verdammt war.

" Es ist ein Land, das von der SPD Lichtjahre entfernt ist. Es ist ein Land, in dem man ein Missionar, in dem man Spezialist für aussichtslose Lagen sein muss, wenn man als Sozialdemokrat hier lebt. Hier ist ein Hans-Jochen Vogel also am richtigen Ort. Dem Aussichtslosen hat er sich nämlich in seinem politischen Leben oft genug gestellt."

Heribert Prantl galoppiert mit Vogel durch ein halbes Jahrhundert politischer Tätigkeit, die trotz seiner Sonderrolle eine glänzende Karriere genannt werden muss: Er war Oberbürgermeister von München, Landesvorsitzender der SPD in Bayern, Bundesbauminister und Justizminister, SPD-Vorsitzender, kurzzeitig Regierender Bürgermeister von Berlin und Kanzlerkandidat. In dieser Rolle war ihm kein Erfolg beschieden, weshalb das Buch das Umgehen nicht nur mit Höhen, sondern auch mit den Tiefen politischen Wirkens behandelt und die beiden Männer im Bauerngarten über Erfahrungen in schwierigen Zeiten diskutieren.

Kern der Gespräche ist die Ethik: Ohne Hoffnung stirbt die Zuversicht, so heißt es an einer Stelle, und: So etwas tut man nicht. Vogels Triebkraft, so sagt er selbst, ist sein Glaube an Anstand und Moral in der Politik, aber auch sein ganz konkreter, christlicher Glaube an Gott. Dass er auch, bei allem zur Schau gestellten guten Willen, Eitelkeiten kennt, kann das Buch nicht verbergen. Vogel hat seine Chance erkannt, als ihm die Idee zu diesem Buch präsentiert wurde.

" Nach einiger Überlegung erschien mir das sinnvoll, nicht weil ich mich überschätze oder in besonderer Weise auf Medienpräsenz erpicht bin, sondern weil ich einmal zu der allmählich dahingehenden Generation gehöre, die die Zeit des NS-Gewaltregimes und des Krieges noch bewusst miterlebt habe, letzteres ab 1943 als Soldat."

Das Buch ist mehr als der Versuch eines Portraits mit Hilfe gezielter Fragen: Vogel hat hier sein politisches Testament aufzeichnen lassen, von einem Journalisten, der ihm weltanschaulich nicht allzu fern steht, und das gibt ihm Gelegenheit, anders als in schnelllebigen Interviews des Tagesgeschäftes, auch seinen Parteifreunden einiges mitzugeben, von seinen Vorstellungen von Gerechtigkeit, von Freiheit und vom Sozialen. Er sehnt sich nach einem Zeitgeist zurück, indem – nicht nur in der Sozialdemokratie - Werte im Vordergrund standen und nicht allein die Frage nach der ökonomischen Verwertbarkeit.

" Ich empfinde mich in mancher Beziehung als altmodisch. Nicht nur deswegen, weil ich nicht im Internet bin und kein Handy habe, sondern weil ich immer stärker denke, dass Erfahrungen und Begriffe, die auch innerhalb der Sozialdemokratie weiter zurückreichen, dass die verdammt noch mal am Leben erhalten werden müssen."

An wenigen Stellen geraten die Männer in Streit, etwa über die Frage der Abtreibung und der Pränatalen Diagnostik, oder darüber, ob es vertretbar ist, in Nordafrika Auffanglager für Migranten zu errichten. Oft genug aber ist die Fragehaltung Prantls gefällig und teilweise nicht kritisch genug, er selbst gibt zu, dass sein Interesse an Vogel nicht nur journalistischer Natur ist.

" Ein über das journalistische hinausgehende persönliches Interesse, die Frage geklärt zu wissen: Hat sichs rentiert? Und das natürlich nicht finanziell oder ökonomisch gemeint. Sondern: Ein Leben für die Politik – was bleibt übrig? "

Das kommt darauf an, was man darunter versteht, erwidert Vogel auf diese Frage, er selbst jedenfalls sei mit sich im Reinen.

"Politik und Anstand - Hans-Jochen Vogel im Gespräch mit Heribert Prantl"
Herder Verlag, Freiburg, 2005