Politik ohne Werte?

Von Robert Misik |
Angenommen, in einer Fernseh-Talkshow sagt jemand mit großer rhetorischer Geste, dass "Werte" ganz wichtig und der "Werteverfall" ganz grauenhaft seien, dann kann man sich darauf verlassen, dass es sich bei dem, der da spricht, entweder um jemanden vom ultrakonservativen Narrensaum handelt oder um jemanden vom Schlage Peter Hahnes oder um den Verfassungsrichter Udo di Fabio oder um Kölns Kardinal Meisner. Und man kann mit fast ebensolcher Sicherheit voraussetzen, dass jemand, der sich selbst eher als progressiven Menschen sieht, das Wort "Werte" nicht allzu gerne und allzu oft in den Mund nimmt.
"Werte" werden im saloppen Sprachgebrauch beinahe automatisch mit "konservativen Werten" gleichgesetzt. "Wertekonservativismus" ist ein gebräuchlicher Begriff, von einem "Werteprogressismus" oder "Werteprogressivismus" hat noch nie jemand gehört, es fällt einem schon schwer, das Wort überhaupt auszusprechen.

Wird im besinnlichen Ton eine "Renaissance der Werte" herbeigesehnt oder in einem eher alarmistischen Ton der "Verfall der Werte" beklagt, dann entstehen wie von selbst Assoziationsreihen im Kopf. Wer von "Werten" spricht, hält meist die traditionelle Familie hoch und ein hergebrachtes Frauenbild. Sehr oft kommt dann schnell die Rede auf "maskulinisierte Emanzen", auf die Werte des "christlichen Europa", und wie von selbst fügt sich dann, beispielsweise, die Ablehnung der Homo-Ehe ein, weil die ja die Verbindlichkeit der Ehe zwischen Mann und Frau relativiere.

"Relativismus", "Werterelativismus" – die Lieblingsvokabel von Papst Benedikt XVI. – machte in den vergangenen Jahren regelrecht Karriere. Dabei behauptet die These vom Werterelativismus nicht einmal ein Wachstum der Unmoral, sondern nur einen Verlust allgemein verbindlicher Werte. Diese These behauptet zunächst nicht mehr als: Die einen haben diese, die anderen haben jene Werte, und es gibt keine Instanz mehr, die eine Hierarchie an Werten gewissermaßen verordnen könnte. Dennoch ist das Wort auch eine Schmähvokabel, denn sie insinuiert gleichzeitig: Die Moral von uns ist moralisch, die Moral der Anderen ist relativ.

Eher progressive Menschen reagieren auf all den Werteklimbim mit einem Abwehrreflex. Für sie hat der Begriff selbst den Geruch des Pfäffischen, Illiberalen und moralisch Aggressiven, weil er eben seit jeher von Leuten benützt wird, die anderen Menschen vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben. Manche wiederum würden vielleicht anführen, sie wollten ja die Gesellschaft verbessern und nicht den Lebenswandel der Menschen verändern, indem sie ihnen mit Moralvorschriften kommen. Wieder andere bilden sich viel auf ihren "Realismus" ein, und "Werte" oder "Ideale" klingen verdammt nach fantastischer Schwärmerei.

Wenn progressive Menschen ihr Ideal einer sozial gerechten Gesellschaft oder das Ideal der Gleichheit begründen wollen, dann eben nicht als "Ideal", dann führen sie sehr gerne an, dass "Gerechtigkeit" nützlich ist. Dass alle Menschen zum Fortschritt einer Gesellschaft beitragen, wenn alle Menschen aus ihrem Leben etwas machen können, dass grobe Ungleichheiten zu Konflikten führen, was wiederum immense gesellschaftliche Folgekosten hat, und dass sich die Menschen ganz generell mehr engagieren, wenn sie sich fair behandelt fühlen.

Dabei wären diese Menschen, die sich als Progressive sehen, natürlich sogar dann für Gerechtigkeit, wenn sie keine so eindeutigen nützlichen Folgen hätte. Wenn die Unfairness nicht unnütz, sondern nützlich wäre, würden sie ja nicht plötzlich für Unfairness plädieren. Sie sind nicht primär für die Gleichheit, weil sie nützlich ist, sondern sie sind für die Gleichheit, weil sie für die Gleichheit sind, weil sie ihrem ethischen Kompass entspricht.

Diese Linken, die von Werten so ungern reden, sind der Überzeugung, dass jeder aufgrund der Würde, die ihm als Mensch zusteht, einen Anspruch auf respektvolle Behandlung hat und dass dies selbst für Asylbewerber, Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger und Obdachlose, ja auch für Alleinerzieherinnen und ihre Babys gilt.

Eine werteorientierte Politik? Die gibt’s. Aber wer sie sucht, sollte weniger auf die konservative Seite blicken. Viel eher findet man die links.


Robert Misik, geboren 1966, lebt als Essayist, Buchautor, Blogger und Videoblogger in Wien. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen: "Politik der Paranoia. Gegen die Neuen Konservativen" (2009), "Glanz und Elend der Kommerzkultur" (2007), "Genial dagegen" (2005). Im Frühjahr 2009 wurde er mit dem Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet.
Misik, Robert
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