Politik

Den Neoliberalismus überwinden

Colin Crouch beim Interview im Studio beim Deutschlandradio Kultur
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch im Interview © Deutschlandradio / Bettina Straub
Colin Crouch im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 27.11.2013
Als Sozialdemokrat würde Colin Crouch, Autor von "Jenseits des Neoliberalismus", in Deutschland für eine große Koalition stimmen. Aus seiner Sicht sollte die Politik die Probleme des Marktes bekämpfen.
Klaus Pokatzky: "Die deutsche Wahl entscheidet über Europas Sozialdemokratie", das hat der britische Soziologe und Politikwissenschaftler Colin Crouch in einem Interview vor der Bundestagswahl gesagt. Die Wahl ist lange vorbei, die Koalitionsverhandlungen zwischen den Unionsparteien und Deutschlands Sozialdemokratie haben mit dem Koalitionsvertrag nun auch ein vorläufiges Ende gefunden. Ein kleiner Parteitag der CDU soll am 9. Dezember darüber abschließend beraten, und in den nächsten Wochen sollen die 470.000 Mitglieder der SPD darüber abstimmen. Colin Crouch, der die deutsche Wahl als entscheidend für Europas Sozialdemokratie gesehen hat, ist nun im Studio. Willkommen!
Colin Crouch: Vielen Dank!
Pokatzky: Wenn Sie in Deutschland Sozialdemokrat wären, wie würden Sie jetzt abstimmen – für oder gegen die große Koalition?
Crouch: Dafür, weil es wichtig ist, dass man eine solche Gelegenheit wahrnimmt. […]
Pokatzky: Sie sind bei uns bekannt geworden durch das Buch "Postdemokratie" und das Buch "Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus". Jetzt haben Sie ein neues Buch geschrieben: "Jenseits des Neoliberalismus", und darin fordern Sie eine gestärkte Sozialdemokratie, damit der Neoliberalismus eingedämmt wird. Jetzt erst einmal: Was ist denn Neoliberalismus überhaupt und warum ist der Ihrer Meinung nach so gefährlich?
Crouch: Neoliberalismus ist der Glaube, dass der Markt alles lösen kann. Für mich ist das gefährlich aus zwei Gründen. Ich bin nicht marktfeindlich, ich bin nicht ein echter Sozialist. Ich glaube an den Markt, ich glaube, dass der Markt viel für uns tun kann. Aber immer macht der Markt Probleme, Schaden: Es gibt, was die Wirtschaftswissenschaftler 'externe Faktoren' nennen. Und wenn man mehr Markt macht, macht man immer mehr externe Faktoren. Deshalb haben wir eine Politik nötig, die auf der einen Seite den Markt schafft, und auf der anderen Seite gegen diese Probleme des Markts kämpft.
Pokatzky: Nun gibt es politische Macht, es gibt wirtschaftliche Macht, es gibt sicherlich auch so was wie kulturell geprägte Macht. Wenn wir uns jetzt diesen Neoliberalismus, wie Sie ihn beschreiben, ansehen, dann stellen Sie ja fest, dass dieser Neoliberalismus die dominierende politische Ideologie ist, nicht die dominierende wirtschaftliche Philosophie. Wie konnte das denn dazu kommen?
Crouch: Ja, es ist auch interessant, dass sehr selten – vielleicht nie – kommen als große Parteien jene Parteien, die bloß neoliberal sind. In Deutschland haben Sie ein Hauptbeispiel, weil Sie heute, nicht in der Vergangenheit, aber heute, in den Freien Demokraten eine bloße neoliberale Partei haben. Auch in den Niederlanden gibt es ähnliche Parteien. Diese Parteien bleiben immer Minderheitsparteien. Der Neoliberalismus hat seine politische Kraft in der Tatsache, dass christliche und Sozialdemokraten auch in großer Zahl die Ideologie angenommen haben. Aber das ist sehr interessant, dass sie immer den Neoliberalismus mit anderen Dingen, mit anderer Politik, mit anderen Werten besonders zusammen machen müssen, um große Parteien zu werden.
Konzentration des Reichtums ist Problem des Neoliberalismus
Pokatzky: Aber jetzt könnte ich ja fragen: Was ist denn so falsch daran, dass Bürger sich durch rationale Entscheidungen am Markt und im Markt orientieren und der Staat sich da besser heraushält aus der Wirtschaft? Sie sind ja auch ein Bekenner des Kapitalismus.
Crouch: Ja. Es gibt einen anderen Aspekt dieses Problems, und das ist: In einer echt neoliberalen Politik gäbe es keine große Konzentration des Reichtums und der Macht. Es muss immer ein Wettbewerb sein […]. Ein Problem des aktuellen, existierenden Neoliberalismus ist, dass wir große Konzentrationen des Reichtums haben, die einen großen politischen Einfluss großer Unternehmen in besonderen Sektoren wie Finanzen, Energie, vielleicht Lebensmittel, das ganz der Lehre des Liberalismus selbst widrig ist.
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch. Herr Crouch, Sie haben ja gesagt: Die großen konservativen Volksparteien – das wären bei uns dann die Union, aber auch die Sozialdemokratie selber ist schon so ein bisschen angebrütet für den Neoliberalismus, vielleicht teilweise auch schon so ein bisschen unterwandert. Warum ist denn nun nur die Sozialdemokratie, so wie Sie es in Ihrem Buch beschreiben, die politische Richtung, die den Neoliberalismus in seine Schranken weisen kann?
Crouch: Es sind meine eigenen Werte, […] für mehr Gleichheit, für mehr Chancen für arbeitende Leute, für mehr Macht am Arbeitsplatz für Arbeiter. Deshalb bin ich ein Sozialdemokrat. Ich sehe aber auch, dass es andere wichtige Werte gibt, die sich bei den christlichen Demokraten finden. Und ich glaube, zusammen können sie vielleicht gegen einige der Probleme des Marktes kämpfen. Es gibt aber auch ein Problem, dass alle beide zusammen ein bisschen rückwärts blicken. Sie sind vielleicht zu viel in ihrer eigenen Vergangenheit verwurzelt. Und sie müssen heute aus dieser Vergangenheit kommen und auf neue, zukünftige Probleme, die der Markt schafft, blicken.
Pokatzky: Sie sehen als die geborenen Partner der Sozialdemokratie in Europa für den Kampf gegen den Neoliberalismus die Grünen. Warum ausgerechnet die Grünen?
Crouch: Die Grünen, weil wenn man über die externen Faktoren des Markts spricht, müssen wir sehen, dass das Hauptbeispiel der externen Faktoren der Umweltschaden ist, der Klimaschaden. Unter dieser finanziellen Krise haben wir fast vergessen, dass das das Hauptproblem für die Menschheit ist. Und für mich haben die Grünen eine neue, allerwichtigste Frage zur Tagesordnung gebracht.
Pokatzky: Aber in Deutschland ist die Sozialdemokratie ja weitgehend – wir haben es jetzt wieder bei den Koalitionsverhandlungen gesehen, gerade auch mit der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft – in Deutschland sind die Sozialdemokraten, was so was angeht, ja auch eine sehr konservative Partei. Also da, wenn es um Energiefragen geht, da geht es immer noch um die Kohle, da geht es um Arbeitsplätze in erster Linie. Schaffen die das dann wirklich, also diese richtig traditionell richtig konservative Sozialdemokratie mit den Grünen und dann noch auf europäischer Ebene? Glauben Sie daran?
Crouch: In einer postindustriellen Wirtschaft wird es immer einfacher für Grüne und Sozialdemokraten, zusammenzuarbeiten. Deutschland ist ein interessantes Beispiel, weil sie noch eine große, eine gute Industrie haben. Aber normalerweise ist die Zukunft der Wirtschaft in Sektoren, die nicht so viel Umweltschaden machen. Und in der Zukunft sollte es einfacher für Grüne und Sozialdemokraten, zusammenzuarbeiten. Aber die rot-grüne Koalition der Vergangenheit haben was getan, das war eine gute Regierung.
"Die Zukunft der Sozialdemokratie muss weiblich sein"
Pokatzky: Die Sozialdemokraten stellen gerade mal zehn der 28 Staats- und Regierungschefs in Europa. Was muss passieren, damit die Sozialdemokratie, wie Sie sie sich wünschen, den Schub bekommt, jetzt zu der dominierenden Kraft in Europa zu werden? Was müssen sie da noch zulegen?
Crouch: Die Zukunft der Sozialdemokratie muss weiblich sein. Die große Zahl der Arbeiter in den neuen Zahlen der Wirtschaft, der neuen Dienstleistungssektoren, besonders in den niedrigen Stellen, sind Frauen. Deutschland ist hier eine Ausnahme, aber in den meisten anderen Ländern in Europa, auch in vielen anderen Staaten: Die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder heute sind Frauen. Die Mehrheit der Wähler für linksstehende Parteien sind Frauen. Ich glaube, wir haben bis jetzt nur einen Teil einer echt feministischen Tagesordnung gesehen. Und ich glaube, dass es hier eine große Zukunft sein kann. In der Sozialdemokratie der Vergangenheit gab es eine männliche Tagesordnung. Die Frauen waren in dieser Tagesordnung eingeschlossen nur als Partner von Männern. Vielleicht sehen wir etwas ganz anderes in der Zukunft, vielleicht eine mehr feministische, sozialdemokratische Tagesordnung. Ich hoffe darauf.
Pokatzky: Also Angela Merkel als das große Vorbild, Angela Merkel, die erste sozialdemokratische Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, als das große Vorbild für die europäische Sozialdemokratie?
Crouch: Ja, individuelle Frauen sind etwas Besonderes. Ich spreche über die Lebensprobleme der normalen Frauen in der normalen Wirtschaft, die Frauen, die ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaft und anderen Aspekten des Lebens machen müssen.
Pokatzky: Herzlichen Dank, Colin Crouch, Ihr Buch "Jenseits des Neoliberalismus: Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit", ist im Passagen-Verlag Wien erschienen mit 236 Seiten und kostet 19,90 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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