Polit-Star mit utopischen Hoffnungen

Jürgen Kocka im Gespräch mit Marietta Schwarz · 13.08.2013
Vor 100 Jahren starb August Bebel, den die Zeitgenossen den "Kaiser der Arbeiter" nannten. Der aus kleinen Verhältnissen stammende Sozialdemokrat hielt die Flügel seiner Partei mit Charisma, Rednergabe und "viel Substanz" zusammen, sagt der Historiker Jürgen Kocka.
Marietta Schwarz: Das Jahr 1913 ist für die SPD bedeutend. Es ist das Jahr, in dem Willy Brandt geboren wurde, Friedrich Ebert an die Spitze der Partei trat und August Bebel starb. Das Ableben des sogenannten Kaisers der Arbeiter, wie man Bebel ehrfürchtig nannte, liegt heute genau 100 Jahre zurück. Der Mann gründete 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, damals hieß sie noch SDAP. Von seinen Anhängern wurde er geliebt und geachtet, vom politischen Gegner per Sozialistengesetz verfolgt. Vergebens – unter ihm wurde die Partei zur größten Arbeiterpartei Europas. Kann eine darbende SPD heute etwas von ihm lernen? Fragen dazu an den Historiker Jürgen Kocka, früher Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin. Guten Morgen, Herr Kocka.

Jürgen Kocka: Guten Morgen.

Schwarz: Welche Fähigkeiten haben diesen August Bebel als Politiker denn so erfolgreich gemacht?

Kocka: Er kam aus sehr kleinen Verhältnissen, hatte relativ wenig Schulbildung und hat erhebliches Gewicht auf Selbstbildung gelegt. Er ist als Handwerksgeselle gewandert, er hat also die Nöte und Hoffnungen der kleinen Leute, die er später vertrat, hautnah mitbekommen. Gleichzeitig hat er vieles von den damaligen politischen Diskussionen aufgenommen und ist zu einem Polit-Star geworden. Ich denke, dieser Spagat zwischen kleinen Verhältnissen und großen Aufgaben zeichnete ihn aus. Dazu eine rhetorische Begabung, sehr viel gesunder Menschenverstand und utopische Hoffnungen, die er hatte, aber mit pragmatischer Alltagsarbeit verbinden konnte.

Schwarz: Geschadet hat ihm auch nicht, dass er am Ende seines Lebens ein beträchtliches Vermögen vererben konnte, da war er nämlich erfolgreicher Unternehmer, und trotzdem bei den Arbeitern akzeptiert, Sie haben das ja angedeutet. Also, spielten Klassengegensätze da offenbar keine Rolle oder war er die perfekte Projektionsfläche für die Arbeiter, die dort auch hinkommen wollten?

Kocka: Klassengegensätze spielten eine riesengroße Rolle in Deutschland wie in anderen Ländern vor 1914 wie auch noch später. Aber Bebel hat dem auch Ausdruck verliehen. Er war einer der wichtigsten Gründer der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, einer Bewegung kleiner Leute, die es aber fertigbrachte, gleichzeitig Bildungsbürger, Intellektuelle zu gewinnen und in diesem noch vorparlamentarischen System des Kaiserreichs mitzuarbeiten. Revolutionäre Zielsetzungen auf der einen Seite, parlamentarische Alltagsarbeit auf der anderen Seite.

Er, Bebel, ja, war ein Kleinunternehmer. Während er im Gefängnis saß, und er saß mehrfach im Gefängnis, hat seine Frau den Betrieb geleitet. Aber das hat man ihm nicht übel genommen, keineswegs, sondern als ein Zeichen seiner Tüchtigkeit auch gesehen. Gleichzeitig hat er natürlich auf dem Gebiet der Politik sehr, sehr viel geleistet, sowohl, was den Zusammenhalt der eigenen Partei, die auch damals schon Flügel hatte, angeht, wie auch, was die öffentliche Darstellung der Arbeiterfrage angeht.

Schwarz: Wie hat er denn die Flügel zusammengehalten?

Kocka: Nun, er hat eine Mittelposition selbst eingenommen zwischen den revolutionär orientierten Personen wie Luxemburg und Karl Liebknecht auf der einen Seite und den Revisionisten wie Bernstein auf der anderen Seite. Er hat zweitens nutzen können, dass die sozialdemokratische Bewegung sehr viel mehr verfolgt und ins Abseits noch gedrückt wurde, als das später und gar heute der Fall ist. Das schweißt zusammen. Und er hatte charismatische Fähigkeiten. Er war ein großer Redner, und er hatte auch viel Substanz.

"Die SPD hat sehr vieles hingekriegt"
Schwarz: Was würde, Herr Kocka, dieser August Bebel zum heutigen Zustand der SPD sagen?

Kocka: Nun, er wäre wahrscheinlich zunächst einmal erstaunt und beglückt, wie weit sie es gebracht hat. Die SPD neigt ja sehr zur selbstkritischen Beschäftigung mit sich selbst, aber sie hat natürlich über die Jahrzehnte und auch in den allerletzten Jahren sehr, sehr vieles hingekriegt. Und Bebel würde diese heutige Gesellschaft kaum noch wiedererkennen, auch, was Arbeiterrechte, was Lebenschancen, was Integration der Arbeiterbewegung in die Gesellschaft angeht.

Zum anderen würde er vielleicht ein wenig enttäuscht sein, dass große Zielvorstellungen stärker in den Hintergrund getreten sind heutzutage im Vergleich zu der Zeit vor hundert Jahren, was vielleicht gar nicht anders sein kann. Und drittens hätte er es schwerer. Denn die Politik ist so viel komplizierter geworden, die Dampfkraft des Verfolgtwerdens fehlt der SPD natürlich heute, die sie damals in der Zeit des Sozialistengesetzes hatte. Und die Arbeiterfrage ist längst nicht mehr von der zentralen Bedeutung, wie sie es damals war.

Schwarz: Herr Kocka, vielleicht kurz noch zum Schluss: Die SPD, haben Sie gesagt, hat viel geleistet, aber momentan darbt sie unter 30 Prozent. Woran liegt es, dass die sozialen Themen, die ja noch vorhanden sind, dass sie damit nicht mehr so richtig durchdringen kann?

Kocka: Die schnellste Antwort ist, dass ein großer Teil der damals von der Sozialdemokratie vertretenen Ziele, die natürlich weiterentwickelt wurden, zum allgemeinen Besitz unserer Gesellschaft geworden sind und von daher nicht mehr so eindeutig dafür taugen, ein Lager, eine große Partei von anderen abzuheben. Gewissermaßen ist es der Erfolg, der die Schwierigkeiten heute vergrößert.

Schwarz: Der Historiker Jürgen Kocka über den Arbeiterführer August Bebel, der heute vor 100 Jahren starb. Herr Kocka, danke für das Gespräch.

Kocka: Bitte sehr.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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