Polen fordert von Deutschland mehr Führung in der Eurokrise

Von Basil Kerski |
Polen hat sein historisches Trauma überwunden: Längst warnt die Regierung in Warschau nicht mehr vor deutscher Dominanz in Europa. Im Gegenteil: Der polnische Chefdiplomat Radek Sikorski fürchtet sich weniger vor der deutschen Übermacht als vor der deutschen Passivität.
Deutschland ist eine große Verantwortung zugewachsen: Von der Politik der Bundesregierung hängt es maßgeblich ab, ob der Euro gerettet werden kann. Dessen sind sich die meisten Europäer zwar bewusst, doch sie reagieren höchst widersprüchlich auf diese Lage. Der Chor derjenigen, die die Deutschen auffordern, Europa zu führen, ist groß, doch gleichzeitig werden Stimmen lauter, die vor der deutschen Dominanz warnen.

Ein solches politisches Klima erfordert von deutschen Politikern viel Taktgefühl und kluges europäisches Mannschaftsspiel - von Deutschlands Partnern wiederum Vertrauen in die Berliner Europapolitik. Der notwendige Vertrauensvorschuss kommt in diesen Tagen von unerwarteter Seite: von Polen, einem Land, das in seiner Geschichte traumatische Erfahrungen mit deutscher Hegemonie gesammelt hat.

Bekanntlich gilt Polen als ein Staat mit hohem Nationalbewusstsein und Minderwertigkeitskomplexen gegenüber den großen Nachbarn. Die polnische Europapolitik wird oft mit der britischen Distanz zu Brüssel assoziiert. Doch es ist ein polnischer Politiker mit britischen Wurzeln, der Chefdiplomat Radek Sikorski, der kürzlich in Berlin von der Bundesrepublik mehr Führung in der Eurokrise und von den Europäern mehr Mut zur Stärkung des Föderalismus einforderte.
Als britischer Reporter kam Sikorski nach der Wende an die Weichsel, als Jugendlicher war er vor dem Kommunismus nach Großbritannien geflüchtet. In der jungen polnischen Demokratie machte er auf der Seite der EU-kritischen Konservativen Karriere. Als Außenminister unter Donald Tusk hat er sich aber als ein besonnener Diplomat profiliert, der die deutsch-polnische Interessengemeinschaft zu pflegen weiß.

Europa, so Sikorski, habe eine gemeinsame Währung, doch kein Finanzministerium, gemeinsame Grenzen, doch keine einheitliche Einwanderungspolitik, es strebe eine gemeinsame Außenpolitik an, aber diese verfüge über keine realen Machtinstrumente. Es sei nicht etwa vom internationalen Terrorismus gefährdet, sondern von der eigenen Inkonsequenz. Und mit britisch-polnischer Eigenironie stellte Sikorski fest, dass er der erste polnische Minister sei, der sich weniger vor der deutschen Übermacht denn vor der deutschen Passivität fürchte.

Sikorskis Berliner Rede ist ein unerwarteter Höhepunkt in der letzten Phase der polnischen EU-Ratspräsidentschaft, die sich als eine schwierige Mission erwiesen hat. Denn Polen liegt außerhalb der Eurozone. In der Krise stehen Tusk und Sikorski im Schatten von "Merkozy". Zudem musste sich - mitten in der Präsidentschaft - die polnische Regierung dem Wählervotum stellen. Doch die Polen bewiesen politische Reife. Misstrauisch gegenüber Populisten bestätigten sie Tusk im Amt und sorgten für eine im postkommunistischen Europa seltene politische Kontinuität.
Aber es ist auch das historische Gedächtnis, das Polens Europapolitik die Richtung weist. Polen haben gelernt, dass ein einiges Europa Polens Souveränität sichert, es vor allem vor den Gefahren des postsowjetischen Raums schützt. Zudem verfügt das Land über eigene föderale Traditionen. 400 Jahre lang bildete Polen gemeinsam mit Litauen eine Union. Sie hat, daran erinnert Radek Sikorski warnend, sich zu spät an die Herausforderungen der Zeit angepasst und ist schließlich untergegangen.

Und das ist sein, das ist Warschaus Appell an die Partner in Brüssel: zögerliche Reformen reichen in stürmischen Zeichen nicht aus. Die Europäische Union muss sich daher schnell und grundlegend wandeln.

Basil Kerski, geboren 1969 in Danzig, ist Chefredakteur des zweisprachigen deutsch-polnischen Magazins "DIALOG". Er lebt seit 1979 in Berlin, wo er an der Freien Universität Slawistik und Politikwissenschaft studiert hat. Die von ihm geleitete Zeitschrift erhielt 2009 den von der Bundeszentrale für politische Bildung gestifteten "Einheitspreis 2009" in der Kategorie Kultur.
Basil Kerski
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