Polen ehrt seinen großen Dichter

Von Martin Sander · 02.01.2011
Der vor einhundert Jahren geborene Czeslaw Milosz gilt als einer der wichtigsten Literaten in Polen. Er erhielt 1980 den Literaturnobelpreis. Sein Heimatland widmet ihm ein Gedenkjahr mit vielen Veranstaltungen.
"Czeslaw Milosz wurde am 30. Juni 1911 geboren, einhundert Jahre bevor Polen die Präsidentschaft in der Europäischen Union übernehmen wird, und zwar als Untertan des russischen Zaren. Auf der europäischen Landkarte gab es damals weder Polen noch Litauen - noch manch anderen Staat. Milosz symbolisiert die Veränderungen in diesem Teil der Welt, in Mittel- und Osteuropa."

Grzegorz Gauden, Direktor des Krakauer Buchinstituts, ist verantwortlich für das Czeslaw -Milosz-Jahr 2011, in dem Veranstaltungen aller Art, neue Übersetzungen und Vertonungen in Polen und im Ausland geplant sind. Ausgerufen wurde das Milosz-Jahr vor einigen Wochen vom polnischen Parlament Jahr per Mehrheitsbeschluss, um den wohl bedeutendsten polnischen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts und Literaturnobelpreisträger von 1980 zu ehren, Milosz, hier zu hören auf einer Lesung des Literarischen Colloquiums Berlin 2000. Czeslaw Milosz:
"Als der Tod schon nahe war, dachte der Dichter bei sich.
Es gab wohl keine Obsession und keine törichte Idee meiner Zeit,
in die ich mich nicht Hals über Kopf gestürzt hätte.
Man sollte mich in die Wanne setzen und
mich so lange bürsten,
bist der ganze Schmutz von mir abgewaschen ist.
Und doch, gerade durch diesen Schmutz
konnte ich ein Dichter des 20. Jahrhunderts sein.
Und vielleicht wollte es der Herrgott so,
damit ich ihm von Nutzen sei."

Viele politische Veränderungen des 20. Jahrhunderts hat Milosz am eigenen Leib erfahren und zum Teil auch selbst betrieben. Vor allem aber hat er, der im heutigen Litauen zur Welt kam und sich stets auch mit Litauen identifizierte, polnische Literaturgeschichte geschrieben. In den dreißiger Jahren debütierte er in Wilna. Unter der deutschen Besatzung arbeitete der Dichter als Hilfsbibliothekar in Warschau und publizierte Gedichte in Verlagen des polnischen Untergrundstaats. Er schrieb über die Tragödie des Warschauers Ghettos, in dessen unmittelbarer Nähe er lebte, Gedichte über die Qualen der Opfer und über die Scham christlicher Zeugen. Kurz nach der Befreiung von der deutschen Besatzung trat Czeslaw Milosz in den Dienst des neuen, kommunistischen Polen. Wenige Jahre später, 1951, setzte er sich als Botschaftsangehöriger in den Westen ab und schrieb einen glänzenden Essay über die Empfänglichkeit von Intellektuellen für die totalitäre Herrschaft - "Das verführte Denken". Hier analysierte er unbarmherzig auch seinen eigenen Fall. Der Text, in den 50er-Jahren viel beachtet und später nahezu in Vergessenheit geraten, beweist gerade wieder seine Aktualität. Der kürzlich verstorbene Historiker Tony Judt bezog ihn in der "New York Review of Books" auf die Verführbarkeit amerikanischer Intellektueller durch die Politik von George W. Bush. Demnächst soll "Das verführte Denken" sogar auf Chinesisch erscheinen.

Miloszs vorübergehendes Engagement für den Kommunismus will ihm die nationale Rechte Polens - trotz seiner glänzenden Selbstentblößung - immer noch nicht verzeihen. Nationalkonservative Abgeordnete protestierten daher gegen das Mi³osz-Jahr 2011. Ihre Ablehnung hatte noch einen weiteren Grund. Grzegorz Gauden:

"Milosz bekannte sich stets zur multiethnischen Tradition, zum multikulturellen Erbe Polens. Polen ist zwar seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein in ethnischer Hinsicht einheitliches Land. Doch in der Republik zwischen den Weltkriegen war es eben multiethnisch und hatte große Probleme mit einem Bekenntnis zu dieser Multiethnizität. Czeslaw Milosz sah seine Mission als Dichter und Denker darin, diese Probleme zu behandeln und den Polen vorzuführen."

Viele Polen kommen bis heute mit Miloszs Kritik eines engstirnigen Nationalismus nicht zurecht und lehnen seine Begeisterung für die multiethnischen, insbesondere die jüdischen Wurzeln der polnischen Kultur ab. Die meisten unter den Mi³osz-Skeptikern im polnischen Parlament ließen sich jedoch am Ende von der Mi³osz-begeisterten Mehrheit überzeugen und stimmten zu. Schließlich geht um die Präsentation weltweit anerkannter polnischer Kultur im Ausland. Und Grzegorz Gauden will dem internationalen Publikum nicht nur das Werk von Czeslaw Milosz ins Gedächtnis rufen, sondern auch seine Entstehungsbedingungen. Hervorheben will Gauden im Mi³osz-Jahr 2011 die Besonderheiten der Warschauer Literaturszene vor dem Zweiten Weltkrieg. Grzegorz Gauden:


"Wenn wir auf die europäische Landkarte der dreißiger Jahre schauen, sehen wir, dass Berlin intellektuell gesehen bereits tot war - aus bekannten Gründen. Auch Leningrad und Moskau waren geistig tot. Ebenso Madrid und Rom. In Warschau aber ereigneten sich ganz ungewöhnliche Dinge. Dort konnte man in einem Kaffeehaus Czeslaw Milosz, den späteren Nobelpreisträger, treffen, aber auch einen Witold Gombrowicz oder Bruno Schulz. Zugleich erschienen extrem nationalistische und antisemitische Schriften. Die verschiedenen Kräfte rieben sich aneinander, und Milosz identifizierte sich mit dem modernen, weltoffenen, fortschrittlichen Polen, einem Polen der Toleranz und der vielen Völker."
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