Polarisieren und provozieren

09.09.2008
Martin Walser polarisiert und provoziert - auch im hohen Alter noch. Zwar kann man das dem Titel seines neuen Buches "Kinderspielplatz" noch nicht entnehmen. Doch es enthält zwei öffentliche Reden und einen Anhang mit Tagebuchstellen von 1957 bis 2004, die den Autor immer wieder, und immer an einem anderen Ort, als Außenseiter zeigen.
Walser-Meldungen haben in der Medienlandschaft stets eine verlässliche Skandalisierungs- und Erregungspotenz. Vor ein paar Wochen ließ sich das wieder einmal beobachten, als gemeldet wurde, Martin Walser verteidige den ehemaligen Siemens-Vorstandschef Heinrich von Pierer und halte Korruption und Bestechung für eine ganz normale Sache.

Ausgangspunkt der Meldungen war eine Rede über "Erfahrungen mit dem Zeitgeist", die Walser zum Jubiläum der "Bayrischen Akademie der Schönen Künste" in München gehalten hat. Pierer diente ihm darin als aktuelle Illustration seiner These, dass die deutsche Öffentlichkeit zu einem besonderen "Reinheitseifer" und einer Moral neige, die wie jede Moral zugleich ihre eigene Heuchelei produziere. Schließlich wisse man doch, dass Großaufträge in vielen Ländern nur durch Bestechung zu bekommen seien. Bis 1998 waren diesbezügliche Ausgaben sogar von der Steuer absetzbar. Warum also die Aufregung?

Die Rede ist nun zusammen mit einem Vortrag über "Kritik, Zustimmung und Geistesgegenwart" und Tagebuchnotizen aus mehr als 50 Jahren unter dem Titel "Kinderspielplatz" nachzulesen. Der Titel fasst kurz und knapp zusammen, wie Walser den Zustand der medialen Öffentlichkeit und der feuilletongestützten Debatten sieht: als Kinderspielplatz nämlich, in dem jeder Sprecher im Brustton der Überzeugung auftritt, Recht zu haben und lieber andere zu kritisieren, als die eigene Position in Frage zu stellen. Walser erkennt darin einen "Kritikopportunismus", gegen den er sich, mal eher polternd, mal filigran argumentierend, zur Wehr setzt.
Er selbst hat genügend Erfahrungen mit dem "Zeitgeist" gemacht und sah sich immer wieder von den "Platzanweisern" in eine bestimmte Ecke gestellt. In den 60er nd frühen 70er Jahren galt er als Kommunist, weil er die amerikatreue deutsche Vasallenhaltung während des Vietnam-Krieges unerträglich fand. Ob er damit diametral zum Zeitgeist stand, wie er nun behauptet, ist allerdings eher fraglich; schließlich war der linke Protest gegen den Krieg doch auch eine Art Mainstream.

Allerdings stand er damit nicht auf Seiten der Machthaber. Anders dann, als er in den 80er Jahren sein Leiden an der deutschen Teilung artikulierte: Da hatte er immerhin die Springer-Presse auf seiner Seite. Doch während Linke ihn zum Revanchisten degradierten, hatten Politiker bis hin zu Franz-Josef Strauß, der einen Milliardenkredit für die DDR einfädelte, längst ihren Frieden mit dem Status Quo des geteilten Landes gemacht.
Die Tagebuchauszüge, die Walser mit den Vorträgen publiziert, illustrieren solche und zeigen ihn immer wieder aufs Neue, und immer wieder an anderem Ort, als Außenseiter. "Je eindeutiger eine Meinung herrschte, desto deutlicher erlebte er seine Abneigung gegen diese Meinung", notierte er beispielsweise im Januar 2004. Das ist ein Grundprinzip, das ihn gelegentlich dazu verführte, Positionen oder Menschen zu verteidigen, bloß weil alle anderen gegen sie sind. Der Fall Pierer ist so ein Beispiel.
Um sich von den Stimmungen und Strömungen des Zeitgeistes frei zu machen, greift Walser auf Immanuel Kants "Kritik der Urteilskraft" zurück und empfiehlt "transzendentales" Denken. Das Kinderspielplatzverhalten des Rechthabens könnte überwunden werden, wenn jeder Kritiker, jeder Kommentator, jeder Berichterstatter zugleich immer auch die eigene Sprechposition reflektiert und kenntlich macht. Dann würden keine absoluten Wahrheiten mehr behauptet, sondern relative Positionen, die sich zueinander ins Verhältnis setzen lassen.

Dann erst hätten wir - mit Kant - so etwas wie eine demokratische Öffentlichkeit, in der Urteile und Meinungen sich in offenem Gespräch herausbilden. Dann könnte man von der Verpflichtung auf Kritik zur Kunst des Zustimmens übergehen: Zustimmung heißt ja nicht, sich kritiklos zu machen, sondern die Stärken zu betonen, die man fördern möchte. Walser nennt diese Haltung "Geistesgegenwart". In diesem Begriff sind Kritik und Zustimmung in dialektischer Weise aufgehoben.

Ist es naiv, so etwas in der von Quoten-, Aktualitäts- und Sensationsdruck gehetzten Medienöffentlichkeit für denkbar zu halten? Vermutlich. Aber das ist egal. Walser war immer ein kritischer Intellektueller und wollte doch keiner sein. Er wehrte sich vehement dagegen, als Schriftsteller zu gesellschaftskritischem Engagement zwangsverpflichtet zu werden. Sein Zustimmungsbedürfnis wurde im Lauf der Jahrzehnte immer größer.

In seinen literarischen Essays hat er unter Beweis gestellt, wie produktiv die Haltung des Rühmens und Zustimmens sein kann. Allerdings war er immer auch ein Kritiker von Macht- und Herrschaftsansprüchen, weil er auf Abhängigkeiten aller Art besonders empfindlich reagierte. Davon ist in seinen jüngsten Vorträgen nicht mehr viel geblieben. Denn auf Machtverhältnisse lässt sich nicht zustimmend reagieren.

Deshalb sind die beiden zusammengehörenden Vorträge da am überzeugendsten, wo es um literarische Verhältnisse geht. Im Literaturbetrieb, den Walser kurzerhand mit dem Zeitgeist gleichsetzt, ist Kritik vor allem ein Geschäft. Aber wirkliches Lesen hat nichts mit Rechthaben zu tun, sondern ist eine Konfrontation mit fremden Erfahrungen. Die lassen sich nicht benoten, sondern nur im Gespräch beantworten. Lesen ist praktizierte Geistesgegenwart.

Rezensiert von Jörg Magenau

Martin Walser: Kinderspielplatz. Zwei öffentliche Reden über Kritik, Zustimmung, Zeitgeist
Mit einem Anhang Tagebuchstellen von 1957 bis 2004
Berlin University Press, Berlin 2008
118 Seiten, 17,90 Euro