Pokerspiel aus Leidenschaft

Sommer 1948 in Norddeutschland. Nahrungsmittel und erst recht Luxusgüter sind knapp. Inga, eine junge Deutsche, arbeitet wegen ihrer guten Englischkenntnisse als zivile Angestellte in einem britischen Camp. Das bringt ihrer gesamten Familie im Alltag viele Vorteile.
Da wird Inga auf den verletzten britischen Offizier Alec Hayden aufmerksam, ein Mann mit Charisma, aber dennoch seltsam in sich gekehrt. Inga ist von ihm fasziniert, aber seine unnahbare, strenge Art ihr gegenüber stört sie. Es bleibt Inga nicht lange verborgen, dass Hayden ein leidenschaftlicher Pokerspieler ist, der für eine Partie vermutlich sogar seine Karriere riskieren würde.

Diese Entdeckung macht ihn für Inga jedoch noch interessanter. Die lebenshungrige junge Frau träumt selbst davon, einmal das richtige Blatt in den Händen zu halten. Schon bald nimmt sie an den Pokerpartien im Camp teil und setzt dabei ihre bescheidenen Ersparnisse aufs Spiel. Und nicht nur ihre. Als sie alles auf eine Karte setzen will und alles zu verlieren droht, entdeckt der unnahbare Offizier, dass das Pokerspiel nicht seine einzige Leidenschaft ist.

Der Roman besticht durch eine klare, schnörkellose Sprache und kurze, unkomplizierte Sätze, fast so, wie man sie in amerikanischen Kurzgeschichten findet. Dadurch gelingt es Michael Wallner scheinbar mühelos, den Leser mit in die beschriebene Epoche zu nehmen. Man nimmt Anteil an den Nachkriegsentbehrungen, am ungestillten Lebenshunger einer jungen Frau im Jahr Drei nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Autor moralisiert in keiner Weise, wenn er Zeiten beschreibt, die bei weitem noch nicht als normal gelten können.

Das eigentliche Thema Vergangenheitsbewältigung führt er beinahe durch die Hintertür ein. Ingas Vater wird mit 48 Jahren in den Ruhestand geschickt, er war im Dritten Reich Bahnhofsvorsteher, und man fragt sich, wie viele Züge er wohl in Konzentrationslager geschickt hat. Mit den neuen Zeiten tut er sich sehr schwer, aber auch mit den alten Zeiten kann er nichts mehr anfangen.

Ingas Mutter ist eine ruhelose Person, stets nervös rauchend und in Erziehungsfragen strenger als ihr Mann. Ingas Onkel ist selbst Familienvater, macht sich aber unverhohlen und - schlimmerweise von ihren Eltern akzeptiert - an Inga heran. Es scheint, als gäbe es zwar noch Regeln, aber niemanden, der auf ihre Durchsetzung achtet. Es ist eine Zeit im Umbruch, eben "Zwischen den Gezeiten".

Das Buch ist keineswegs nur nachdenklich, sondern streckenweise durchaus heiter, denn der Roman versandet nicht als typische deutsche Nachkriegsgeschichte. Der Krieg ist zwar Geschichte und auch die unmittelbaren Kriegsfolgen sind überstanden. Die mittelbaren wirken deshalb jedoch umso stärker. Es ist die Phase der Neuorientierung und der Fragen, die nicht mehr offiziell, wohl aber in den Familien gestellt werden. Welche Rolle haben die Eltern im Krieg gespielt? Wie kann sich eine junge Frau in der Zukunft behaupten? Wie weit löst sie sich aus ihrer eigenen Geschichte und Gesellschaft, wenn sie sich mit einem britischen Offizier einlässt, der nicht auf Dauer in Norddeutschland stationiert sein wird? Soll man abwarten, bis neue Regeln und Gesetze erlassen werden, oder kann man selbst Regeln definieren und nach ihnen leben?

Dass Michael Wallner diese Fragen nur indirekt stellt, nimmt ihnen nicht die Brisanz, und dass er nicht dem Zwang nachgibt, alle Fragen beantworten zu müssen, macht den Charme seines Romans aus und das Buch zu einer wirklichen Empfehlung.

Rezensiert von Roland Krüger

Michael Wallner - Zwischen den Gezeiten
Luchterhand-Verlag, 2007
254 Seiten, 19,95 Euro