Poetisierung des Alltags

Rezensiert von Helmut Böttiger · 16.06.2006
Wilhelm Genazino galt lange als Frankfurter Stadtflaneur, mit geringen Auflagen und einer verborgenen poetischen Existenz. Erst im Alter von knapp 60 Jahren wurde er fast so etwas wie berühmt, und kaum einem war das mehr zu gönnen als ihm: Sein Roman "Ein Regenschirm für diesen Tag" wurde 2001 völlig unerwartet zum Bestseller, und kurz danach folgte auch der höchste deutsche Literaturpreis, der Büchnerpreis.
Kein Wunder, dass er dann auch endlich das Angebot bekam, die renommierten "Frankfurter Poetikvorlesungen" halten zu dürfen. Er sprach an fünf Nachmittagen im letzten Winter, jeweils eine Stunde lang, über seine Poetologie, und er war damit auch in seiner Heimatstadt auf der obersten Stufe der Aufmerksamkeit angelangt: Mehr als 1000 Zuhörer folgten im größten Hörsaal der Universität, dem Hörsaal 6, jeweils seinen Ausführungen, es war ein gesellschaftliches Ereignis.

Der genius loci Frankfurt, der sich außerhalb von Genazinos Texten sonst eher entzieht, trat dabei einmal besonders in den Mittelpunkt. Es gibt eine Stelle in dem mittlerweile berühmten "Regenschirm"-Roman, in der die Hauptfigur mit seiner Freundin durch einige Seitenstraßen schlendert und dabei auf das Schaufenster eines alteingesessenen Kohlehändlers stößt. Sie nehmen die Auslage, sechs kunstlos aufeinander geschichtete Briketts im Schein einer einzelnen Glühbirne, als ein großes Kunstwerk wahr, als einen poetischen Moment abseits des üblichen städtischen Alltagsgeschehens, etwas in der Zeit Stehengebliebenes. Im Roman ist dies einer dieser spezifischen Genazino-Augenblicke, in denen eine sonderbar melancholisch-glückliche Stimmung entsteht. In der dritten seiner Vorlesungen beschreibt Genazino nun diesen Augenblick noch einmal, und es tritt etwas Merkwürdiges ein: Obwohl er den Hintergrund fast wissenschaftlich ausleuchtet, obwohl er über die Kunstform des "objet trouvé" spricht und all die modernen Entwicklungen, mit denen die harmlose Brikettauslage des Frankfurter Einzelhändlers zum absoluten Kunstgegenstand promoviert werden kann, bleibt das Geheimnis erhalten. Genazino spricht auch in der erklärenden, essayistischen Form so poetisch, so dass all seine Texte zu einem einzigen, in sich geschlossenen Kosmos werden; er bleibt an jeder Stelle ästhetisch glaubwürdig.

Genazinos Poetisierung des Alltags, sein Blick auf die vermeintlichen Nebensächlichkeiten, auf die kleinen Dinge des Lebens entfaltet in allen fünf Vorlesungen einen ganz eigenen Zauber. Ob das nun von der leer gewordenen Batterie einer Taschenlampe ausgeht, die nach einigen Wochen trotzdem noch einmal ein Restglimmen zeigen kann, oder von liegen gebliebenen Brotkrümeln in seiner Küchenschublade, man folgt gebannt seinem Blick, der immer vom Rand her kommt, von unten, und unvermutet auf das Große und Ganze stößt. Und nebenbei lesen sich diese Vorlesungen wie ein ganz neuer Roman: ein Roman über das Schreiben selbst.

Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen
Hanser Verlag